Ein amerikanischer Alptraum

Geld, Sex und Macht: Die Kennedys hatten alles. Doch mit dem Tod von John F. Kennedy jr. haben sie alles verloren.

Von Peter Hossli

Schon auf wackligen Beinen war er eine Ikone. Am Begräbnis seines Vaters hob der Dreijährige die rechte Hand und salutierte dem Sarg des ermordeten Präsidenten. Kurz knickte John-John ein. Aber er weinte kaum, er hatte an diesem Tag, dem 25. November 1963, Geburtstag. Die Fernsehbilder rührten die Welt.

Heute, 36 Jahre später, wird um ihn getrauert. John F. Kennedy jr. ist tot, abgestürzt im Privatflugzeug bei Martha’s Vineyard, einer Reichen- und Prominenteninsel.

Die Welt zeigt sich bestürzt. In den USA und in Europa schalten Fernsehanstalten Sondersendungen. US-Flaggen wehen auf Halbmast. Politiker drücken ihre Bestürzung aus. Vizepräsident Al Gore sprach den Amerikanern aus dem Herzen, als er sagte: «Lasst uns beten.»

Mit John F. Kennedy jr. ist im Atlantik die aufregendste, machthungrigste, umstrittenste und, zumindest symbolisch, die politisch einflussreichste Dynastie der USA versunken. Dem Land ohne Mo-narchie verlieh die Familie königlichen Glanz. Der Name Kennedy stand für Geld, Macht, Erfolg, Einfluss, Schönheit. Und John F. jr. war der Kronprinz. Seit dem Tod von JFK verkörperte keiner den amerikanischen Traum besser als JFK jr.

Sein Tod begrabe nun diesen Mythos, meint Fred Goodwin, Professor für amerikanische Geschichte. Die irisch-katholische Sippe habe ihr Aushängeschild verloren, ihren «golden boy», den «Sohn der Nation», oder, wie «Time» schreibt, «die Vergangenheit und die Zukunft».

Auf JFK jr. ruhten die Hoffnungen. Der Mann war jung, schön und charismatisch. In dieser Hinsicht stand er weder seinem Vater noch seinem Onkel Robert Kennedy nach. Doch von Skandalen blieb der Jurist und Verleger des Politmagazins «George» verschont.

Die vor drei Jahren besiegelte Ehe mit der PR-Frau Carolyn Bessette weckte Erinnerungen an Jackies und Johns glamourösen Anfang. Wie Jackie gehörte auch Carolyn der römisch-katholischen Kirche an, hatte französische Vorfahren und galt als ausgesprochen stilbewusst. Mit ihr an seiner Seite konnten sich viele Amerikaner John F. Kennedy jr. als ihren Präsidenten vorstellen.

Er selber näherte sich beharrlich der Macht. Als Journalist traf er Grössen wie Fidel Castro oder amerikanische Symbole wie den schwarzen Boxer Mike Tyson. In Harlem gründete er eine Schule für bedürftige Kinder; soziale Themen, etwa Rassismus und Umweltschutz, beschäftigten ihn. Unlängst posierte er vor dem Präsidentendenkmal Mount Rushmore. Laut Historiker und Freund Douglas Brinkley strebte er einen Senatssitz an. Dies, obwohl er früher gesagt hatte, er wolle nicht in die Politik. JFK jr. hatte seine Meinung geändert – und den Song für die Vereidigung zum Präsidenten bereits gewählt: Bob Dylans Hymne «Chimes of Freedom».

Jetzt das jähe Ende.

Freitagnacht vergangene Woche fliegt er in einer sechsplätzigen, einmotorigen Piper-Maschine von New Jersey Richtung Massachusetts. Seine Cousine Rory will im Kreis der Familie heiraten. Im Flugzeug sitzen JFK jr., seine Frau Carolyn und deren Schwester Lauren. John fliegt mit einem Gipsbein; er hat sich das Bein vor kurzem gebrochen.

Der Wetterbericht verspricht Unheil. Schwül und stickig ist die Luft, die Sicht minimal. Trotzdem heben die drei ab – ohne Navigationsinstrumente, ohne Schwimmwesten an Bord. «Erfahrene Flieger bleiben in solchen Fällen am Boden», kommentiert ein Pilot nach dem Absturz. Bei dickem Dunst könne man nachts nicht einmal einschätzen, ob das Flugzeug waag- oder senkrecht unterwegs sei. Aviatikexperten sagen auf Grund von Radaraufnahmen, Kennedy sei mit voller Wucht, Nase voran ins Meer gedonnert. Das Flugzeug zerschellt. Kennedy hatte sich überschätzt.

«Er lebte auf der Überholspur», schildert ihn die ehemalige Studienkollegin Debbie H. «Er liebte die Risiken.» Getreu folgte er dem Familienmotto «Fürchte Dich nicht!». Das Brevet besass er erst seit einem knappen Jahr, nie zuvor hatte er nachts über Wasser ein Flugzeug pilotiert. Überdies, vermutet Studienkollegin Debbie H., sei er eventuell unter Drogeneinfluss gestanden.

An der Uni hatte der junge JFK dem Klub der «Beautiful People» angehört, bestehend aus Reichen, Schönen und Erfolgsgewohnten. «Die probierten alles aus und suchten stets den Thrill», sagt die Studienkollegin. Laut anderen Gerüchten wollte John gar nicht mehr fliegen, weil es schon spät gewesen sei; aber seine Frau habe ihn dazu gedrängt.

Am Montagmorgen erklärt die Küstenwache die drei Vermissten für tot. Es sei unmöglich, so lange in 18 Grad kaltem Wasser zu überleben. Der Sohn von John F. Kennedy, der in Dallas den wohl geheimnisumwittertsten Tod des Jahrhunderts gestorben war – auch er nun tot.

Früh sorgte sich die Mutter, die 1994 an Krebs verstorbene Jackie Kennedy, um ihren Liebling. Das FBI überwachte den kleinen John unter dem Codenamen Lark. Nachdem 1968 Onkel Robert in Los Angeles ermordet worden war, sagte Jackie: «Die Kennedys werden reihenweise getötet. Ich und meine Kinder kommen als Nächste dran.»

Als Dreizehnjähriger wurde John-John im Central Park von einem Unbekannten überfallen. Gleichwohl nahm er als Erwachsener die U-Bahn zur Arbeit: «So was gehört zur Stadt.» Die New-Yorker mochten ihn. Hier studierte er Recht. An den Wochenenden sah man ihn und Carolyn im Park in TriBeCa auf Rollschuhen. Freunde beschrieben ihn als «zugänglichen und normalen» Menschen. «John-John verkörperte, was Ende der Sechziger abhanden gegangen war», sagt die Filmemacherin Holly Fisher.

Historiker Brinkley verglich John jr. oft mit Präsident John Quincy Adams. Der hatte versucht, aus dem Schatten seines Vaters zu treten, des zweiten US-Präsidenten John Adams. Kennedy konterte: «Ich fühle mich eher wie Diana.»

Äusserlichkeiten legen diesen Vergleich nahe. Überallhin folgten ihm die Paparazzi. Er war der meistfotografierte Mann Amerikas. Klatschmagazine berichteten über Studienjahre, das zweimalige Scheitern bei der Anwaltsprüfung, die innige Beziehung zur einzigen Schwester Caroline, seine vielen Freundinnen aus dem Showgeschäft wie Popstar Madonna und Schauspielerin Sharon Stone. 1988 krönte ihn das Magazin «People» zum «sexiest man alive», dem Mann mit dem grössten Sexappeal.

Ähnlich wie bei Dianas Tod stürzt John juniors tragisches Ende eine ganze Nation in Trauer. Zudem werden Erinnerungen an die Sechzigerjahre wach, als kurz nacheinander zwei Kennedys und Martin Luther King erschossen wurden.

Ein Blumenmeer bedeckt den Eingang zum Appartement-Gebäude an der North Moore Street 20 im New-Yorker Stadtteil TriBeCa. Hunderte von Schaulustigen stehen fassungslos da oder kleben Zettel an die Wand. «Ich habe Dich zwar nicht gekannt», schrieb ein Unbekannter namens Nick, «aber ich habe Dich geliebt.» Kerzen flackern. «Ich habe das Gefühl, ein Mitglied der eigenen Familie sei gestorben», sagt eine Passantin. Ein Polizist legt einen Kranz hin und bekreuzigt sich. Regisseur Spike Lee hat einen Brief an JFK mitgebracht.

Die Anteilnahme schwappt über New York und die USA hinaus. Im Chat-Raum von America Online erscheinen pro Minute 60 Nachrichten, unwesentlich weniger als nach Dianas Tod. Bill Clinton sprach sein Beileid aus, Vize Al Gore sagte eine Wahlveranstaltung ab. An der JFK-Gedenkstätte in Dallas und beim JFK-Grab in Washington D.C., wo auch John jr. begraben werden soll, fallen Fremde einander in die Arme.

Die Fernsehanstalten senden pausenlos. Bei CNN tragen die Moderatoren Schwarz. Am Sonntag titelte der Sender «JFK jr.: Prince of America». Anderntags blendete NBC das Logo «JFK jr. – Lost at Sea» ein. Eine Kontroverse löste das Magazin «Time» aus. Deren Chef entschied bei Redaktionsschluss am Samstag, ein Titelblatt zu drucken, das JFK für tot erklärte. Das sei «geschmacklos», sagte der Pressesprecher von «Newsweek». Sein Magazin sprach erst von «Tragödie», denn bei Drucklegung habe man noch nichts Genaues gewusst. «Wir hofften noch.» Dreissig Seiten druckte «Newsweek» gleichwohl.

Vieles wird schöngefärbt, die US-Presse zeigt sich anständig. Doch die Kennedy-Saga ist keine schöne Geschichte.

Joseph Kennedy, Patriarch des Clans und Vater von Präsident JFK, scheffelt während der Prohibition Millionen mit illegalen Schnapsgeschäften. Er schreckt nicht vor Geschäften mit der Mafia zurück und begünstigt den politischen Aufstieg seiner Kinder mit Geld aus kriminellen Quellen. Seine Lust nach Frauen ist noch grösser als die von Sohn John oder Bill Clinton. Der Katholik Kennedy hasst die Juden und sympathisiert mit Hitler. Als US-Botschafter in England will er zum Schutz der Deutschen sein Land aus dem Krieg raushalten. Deshalb holt ihn Präsident Roosevelt 1940 heim. Später lügt er wegen der geisteskranken Tochter Rosemary, die nach einer misslungenen Gehirnoperation in eine psychiatrische Klink kam. Dort vegetiert sie, inzwischen 80, noch immer.

Das Scheckbuch des Vaters ermöglicht die Karrieren der Söhne. Den Herausgeber von «Time» besticht Joseph mit 100 000 Dollar, damit JFK 1960 aufs Titelblatt kommt. Eine Million überweist er Schwiegertochter Jackie Kennedy. Sie hatte vor den Wahlen 1960 genug von den Seitensprüngen ihres Mannes – mit dem Schweigegeld verhindert der Patriarch eine Scheidung. Mit seinem Geld schafft er Erstaunliches: Der Katholik durchbricht die Macht des protestantischen US-Geldadels. Viele hatten es nie für möglich gehalten, dass es ein katholischer Ire ins Weisse Haus schafft.

Historiker zweifeln an den Erfolgen und der politischen Bedeutung der Kennedys. JFK sei mit Thomas Jefferson der «überschätzteste Präsident der USA» gewesen, schreibt der Historiker Nathan Miller im Buch «America’s Ten Worst Presidents». So beurteilte JFK die Entwicklung in Vietnam völlig falsch, ebenso die Kubakrise.

Auch andere Kennedys erhalten nur mittelmässige Noten. Dem Idealismus von Robert F. Kennedy stand seine Rücksichtslosigkeit gegenüber, Ted Kennedy sitzt als trinkfreudiger Hinterbänkler wirkungslos im Senat. Und «Hunk flunks», der Schönling schlingert, titelten die Zeitungen, als John jr. durch die Anwaltsprüfung rasselte.

Fälschlicherweise bezeichnen die Medien die vielen Unglücksfälle in der Familie als «Fluch», der auf dem Clan laste. Die tödlichen Attentate waren Tragödien – manches andere aber hat Selbstverschulden oder Leichtsinn als Ursache.

Der älteste Sohn des Patriarchen, Joseph jr., flog 1944 freiwillig ein mit Dynamit beladenes Flugzeug nach Deutschland. «Ein Selbstmordunterfangen», urteilte ein Militärhistoriker. Der Flieger explodierte über England. An Silvester 1997 spielte Michael, ein Sohn von Robert, Frisbee auf Skiern, raste betrunken über den Pistenrand und donnerte in einen Baum. Plump versuchte Senator Ted Kennedy 1969 einen Autounfall zu vertuschen, bei dem seine Sekretärin und angebliche Geliebte Mary Jo Kopechne starb; der nie ganz geklärte Unfall kostete ihn die Chance aufs Weisse Haus.

Neun Monate könnte es dauern, bis der Absturz von John F. Kennedy jr. ausgewertet ist. Neun Monate, in denen am Mythos Kennedy weitergebaut wird.

Arthur Schlesinger über den Tod von John-John

Herr Schlesinger, was bedeutet der Tod von John F. Kennedy jr. für die USA?
Arthur Schlesinger jr.: Natürlich ist es ein schwerer Schlag für die Psyche der Nation. Eine Tragödie, die an die griechische Mythologie erinnert. Darüber hinaus bestärkt der Tod erneut das Vermächtnis der Kennedys. Die Erinnerungen an John F. Kennedy und dessen Sohn dürften nun viele Amerikaner anregen, selbst öffentliche Ämter anzustreben.

Für die Familie selbst könnte es das Ende politischer Ambitionen werden. Die Kennedys verloren ihren Prinzen.
Schlesinger: Ziehen Sie keine verfrühten Schlüsse! Schliesslich werden die Kennedys dazu erzogen, dem Land zu dienen. Sie kommen reich zur Welt und akzeptieren darum ihre soziale Pflicht. Es wird etliche Kennedys geben, die wichtige Ämter erhalten. Die Familie versteht Dienen als von der Natur gegebene Aufgabe.

Wie beurteilen Sie die Bedeutung von John F. Kennedy jr.?
Schlesinger: Er galt als oberflächlicher Schönling für die Klatschspalten. Dahinter steckte ein sozial engagierter Typ, der sich sehr um sein Vermächtnis sorgte.

Warum flog er oft selbst?
Schlesinger: Um die Privatsphäre zu wahren. Dank dem Brevet konnte er das Check-in am Flughafen umgehen.

Warum werden die Kennedys in den USA noch immer abgöttisch verehrt?
Schlesinger: Die Familie steht für etwas, was es hier zu Lande sonst nirgends gibt: echten Idealismus.�