Kleiner Unbekannter

In Maggie Paleys Buch steht alles. Was Männer über den Penis wissen sollten.

Von Peter Hossli

Der Schnitt durch den Schwanz brach Dämme. Am 6. August 1993 schnitt Lorena Bobbitt ihrem schlafenden Mann das Glied mit einem Filetiermesser ab. Er hatte sie vergewaltigt, sie nahm Rache. Schnipp, schnapp, das Ding war weg. In der Folge entdeckten die Amerikaner den Wert des besten Stücks des Mannes.

Dreimal nur in zwanzig Jahren druckten die «New York Times» vor dem verhängnisvollen Schnitt das anstössige Wörtchen «Penis». Seither ist das einstige Unwort nicht mehr aus dem amerikanischen Alltag wegzudenken. Komiker witzeln am Fernsehen darüber, Filmer rücken das Teil ins Bild, Geschichten über den Phallus von Präsident Bill Clinton schafften es auf die Titelseiten der Zeitungen. Darstellungen von Penissen, selbst erigierten, sind allerorts zu sehen.

Überraschenderweise behauptet jetzt die US-Autorin Maggie Paley in ihrem eben erschienenen Buch, Amerika kenne den Penis nicht. Vor allem heterosexuelle Männer wüssten zu wenig Bescheid, sagt Paley, eine zierliche Frau um die fünfzig Jahre. «Höchstens Frauen und Schwule sind mit dem Ding vertraut», sagt sie in einer New-Yorker Bar sitzend und an einem Ginger Ale nippend.

Ihre Erklärung leuchtet ein: «Frauen und Schwule begegnen in ihrem Leben vielen steifen Penissen.» Hetero-Männer hingegen sehen nur den eigenen in aufrechter Form. Überdies weigerten sich viele Männer konsequent, mehr darüber zu erfahren, «nur der eigene Penis interessiert sie wirklich». Viele befürchten, Penis-Connaisseurs würden vorschnell als homosexuell abgestempelt.

Paleys «Book of the Penis» ist ein süffisanter Schnellkurs in Sachen Erektion, Physiologie, Kultur- und Kunstgeschichte des Penis. Sie vermutet, dass das Werk vor allem bei Frauen auf Interesse stösst.

Dabei könnten Männer aus Paleys Sicht einiges lernen. «Das Ding führt ein Eigenleben, oft völlig losgelöst vom Rest des Körpers.» Etwa zweimal die Minute denke dessen Träger daran, es für sexuelle Aktivitäten zu nutzen – falls es gerade stünde. Denn dieselben Männer fürchteten fast genauso oft, ihr Penis versage im entscheidenden Moment.

Impotenz bedeutet wörtlich übersetzt Machtlosigkeit, und Impotenz beschert Männern dauernd Trübsal. Kein Wunder, verkauft sich Viagra in den USA blendend. 30 Millionen Amerikaner schlucken die Potenzpille, jedoch nur zwei Millionen beklagen sich beim Urologen übers fehlende Stehvermögen.

Buchautorin Paley studierte auch das Problem der Grösse. Sicher, sagt sie, «size matters». Länge und Umfang seien von Bedeutung. Sie stellt jedoch für manchen beruhigend fest: Die Länge allein gebe in den wenigsten Fällen den Ausschlag für ein harmonisches Sexleben. «Size-Queens», Frauen, die beim Partner hauptsächlich aufs Ausmass achten, seien Ausnahmen. Viel eher müssten Geschlechtsorgane physisch zueinander passen. «Allzu grosse Penisse können sogar schmerzen», sagt Paley. Gleichwohl glaubt eine Mehrheit der Männer, zu klein bestückt zu sein: Männer sind von Penislängen ähnlich besessen wie Frauen von Schönheit. Zumal in US-Fernsehserien oder im Kino häufig darüber gesprochen wird.

Männer mit kleinen Dingern formten in New York eine Selbsthilfegruppe, die sich «Small etc.» nennt. Sie leiden unter sagenhaften Geschichten über erfolgreiche Kerle und deren Riesenschwänze. Vom Schauspieler Warren Beatty heisst es etwa, er trage ein Glied von den Ausmassen des Geschlechtsteils eines Esels. Präsident Lyndon B. Johnson nannte seins grossspurig «Jumbo». Das flösst den Mitgliedern von «Small etc.» die «nackte Angst» ein, wie Paley recherchierte. Sie glaubt, Psychoanalytiker Freud liege falsch: Nicht Frauen, sondern die meisten Männer litten an Penisneid.

Das Christentum bekämpft Peniskulte seit zwei Jahrtausenden. Andere Kulturen huldigen dem Phallus. Mitglieder der japanischen Mafia stecken während Gefängnisaufenthalten in Ritualen Perlen unter die Vorhaut, jeweils eine pro Jahr. Indianer schweben in orgastischen Dauerzuständen, wenn sie Gewichte an den Penis hängen. In Australien, fand Paley heraus, schlitzen Aborigines das Geschlecht an der Unterseite auf – um es der geteilten Penisform von Kängurus anzupassen.

Penis-Kennerin Paley interessiert sich auch fürs Masturbieren: So gerne und oft Männer masturbieren, so sehr unterbinden Männer solche Lustbedürfnisse. Gottesfürchtige proklamierten Onanie stets als Sünde. Später, die Kirche hatte ihren Einfluss eingebüsst, wurden medizinische Gründe gegen die Selbstbefriedigung angeführt. Erst US-Sexualforscher Albert Kinsey, der zwischen 1930 und 1940 Tausende Männer diesbezüglich interviewte, stellte fest: Alle machens, und niemandem schadets.

Im Internet widmen sich viele Web- Sites der lustvollen Sache. In Chat-Räumen wird über Wichstechniken palavert. Das, schreibt Paley, sei eine Fortsetzung jener Onaniegruppen, denen sich Teenager zu Lernzwecken anschlössen, «der Umgang mit dem Penis will ja gelernt sein».

Sie selbst lernte viel. Zwar könne sie nicht sagen, was ein Penisträger alles empfinde. Nach über einem Jahr Recherche verstehe sie aber, was der Penis mit sich bringe: «Viel Macht, viel Freude und sehr viel Pein.» Auf jeden Fall: «Es ist sicher nicht einfach, einen zu haben.»

Maggie Paley

Ihr genaues Alter gibt die New-Yorkerin Maggie Paley nicht bekannt, sie dürfte zirka 50 Jahre alt sein. Die Autorin machte sich einen Namen mit dem Roman «Bad Manners», in dem sie die sexuellen Fantasien von Frauen freizügig thematisiert.

Aufsehen erregte auch ihr Theaterstück über die unkonventionelle Schriftstellerin Edith Wharton. Daneben ist Maggie Paley regelmässige Autorin für Publikationen wie die «New York Times», «Vogue» und «Life».