Geblendet vor Erleuchtung

Eine Million Mitglieder, darunter Stars wie Madonna: Das Kabbalah Learning Center fabriziert mit Erfolg eine abstruse Heilslehre.

Von Peter Hossli

Noch schnell ein E-Mail per Handy abschicken, die Aktienkurse in Tokio überprüfen und der kleinen Tochter süsse Träume wünschen. Dann ist Lisa, eine New-Yorker Brokerin, bereit für die Spiritualität. «Jetzt kann ich mich von der materiellen Welt lösen.»

Wenig später horcht Lisa andächtig Rabbi Abraham Hadroons Stimme. Dieser lehrt im Showroom Seven, einer Modeboutique im 24. Stock eines New-Yorker Hochhauses, Kabbala, den mystischen Zweig des orthodoxen Judentums.

In der Hand hält Lisa das hebräische Alphabet und eine Tafel mit 72 Namen. «Was sie bedeuten, weiss ich nicht», sagt sie, «aber meine Augen und meine Seele entschlüsseln sie.» Hadroon spricht vom Licht, «das alle Sorgen nimmt».

Kabbala, eine lange versteckt gehaltene jüdische Geheimlehre, gilt als New-Age-Religion der Stunde. Vornehmlich Medienstars wie die Popsängerin Madonna oder die alternde Actrice Elizabeth Taylor verhelfen dem Kabbalah Learning Center (KBL), der selbst ernannten Kabbala-Missionsgesellschaft, zu grosser Popularität.

Gegründet hatte das Zentrum 1969 der heute siebzigjährige Rabbi Phillip Berg. Inzwischen wächst keine jüdische Organisation rasanter. Eine Million Juden wie Nichtjuden haben die Grundausbildung des KBL bereits absolviert. In den zehnteiligen Kursen wird neben der jüdischen Praxis Numerologie und Gesichtsdeutung gelehrt. Das Fernziel in weltweit fast 50 regionalen Ablegern: Negatives loszuwerden und dadurch die Kontrolle übers eigene Leben zu erhalten.

Jeweils donnerstags trifft sich in den Räumen des Showroom Seven die exklusivste Kabbala-Gefolgschaft New Yorks, meist Schauspieler, Banker, Künstlerinnen. US-Komikerin Sandra Bernhard, die erste Pop-Kabbalistin überhaupt, hatte diesen Treff gegründet. «Kabbala gibt allen Dingen Sinn, es entschlüsselt wie eine Art DNS die kaputte Welt», sagt sie. «Ich könnte nicht mehr ohne leben.»

Jüdische Wissenschaftler werfen dem schnell wachsenden Kabbalah Learning Center vor, esoterischen Humbug zu lehren. Die einst aramäisch geschriebene, dann ins Hebräische übertragene Zohar, der kabbalistische Kerntext, könnten nur wenige Menschen begreifen. Was KBL-Gründer Berg predige, sei eine «abstruse Weisheit». Gar als «gemeingefährlichen Kult» bezeichnet der US-Sektenspezialist Rick Ross das KBL. Üblich seien «ähnlich umfassende Gehirnwäschen wie bei den Scientologen». Familien und Ehen würden auseinander getrieben, obskures Instantkarma vermittelt. Ausserdem betreibe das KBL einen «massiven Personenkult» um Phillip Berg und dessen Frau, Karen. Beide seien mehrfache Millionäre, während deren enge Mitarbeiter oft in Armut lebten, sagt Ross.

Tatsächlich berichten etliche ehemalige Mitglieder, Bergs Leute hätten sie gedemütigt, finanziell ausgenommen und psychisch massiv unter Druck gesetzt.

Madonna erweise der Allgemeinheit einen schlechten Dienst, wenn sie das KBL gutheisse, sagt Ross. Sie richte ihr Leben nur noch nach Berg.

Am Handgelenk trägt die Sängerin ein Stück roten Fadens, Symbol des KBL. In New York und Los Angeles lädt sie öfters zu Kabbala-Partys. Ihre Tochter gebar sie in einer Vollmondnacht, der private Instruktor hatte es geraten. Madonna leitete die Geburt ein. Gemäss numerologischen Vorgaben presste sie exakt dreizehn Songs auf ihr Album «Ray of Light». Der Lichtstrahl ist denn auch zentrales kabbalistisches Sinnbild. Das Licht soll Menschen mit Gott verbinden und in die Unsterblichkeit führen. Ausdrücklich dankte Madonna dem Kabbalah Learning Center für die «kreative Hilfe».

Passé sei Madonnas viel gepriesene Eigenständigkeit, sagt Kultkenner Ross. «Wie weggetreten» hätte die Katholikin ausgesehen, als sie Mitte Januar dem jüdischen CNN-Talker Larry King den «mystischen Gehalt» der Kabbala erläuterte. Zwar sei die während Jahrhunderten verschollene Lehre einst nur orthodox geschulten Juden über 40 vorbehalten gewesen. Inzwischen, so Madonna, hätten sich jüdische Wissenschaftler aber entschieden, die Lehre allen zu öffnen. «Sie wird uns erleuchten.»

Die erste Lektion dieser Erleuchtung kostet nichts. Gegen dreihundert Wissenshungrige treffen sich im dritten Stock des neu eröffneten Kabbalah Learning Centers in Manhattans Upper East Side. Grundkurs eins, Lektion vier. Rabbi Hadroon lehrt im kargen Klassenzimmer, wie man Satan besiegt. «Erfolg hat, wer die Balance zwischen allen Ansprüchen findet», sagt er. Es folgen ausgedehnte physikalische Erläuterungen. Lisa, die Brokerin, ist begeistert: «Der Rabbi zeigt mir den Weg.» Die Einführung, wenige Tage zuvor im Showroom Seven, hat ihr zugesagt. Sie bucht zehn Lektionen für 168 Dollar.

Die Studierenden sind verpflichtet, die 350 Dollar teure Zohar, den Grundtext, anzuschaffen – obwohl dasselbe Buch in jüdischen Läden für 90 Dollar zu haben ist. Empfohlen wird, drei Stück zu kaufen, eine für zu Hause, eine für unterwegs, die dritte fürs Büro – obwohl nur wenige die hebräischen Zeichen lesen können. Das mache nichts, erklärt Charles, ein begeisterter Schüler, dem Kabbala «endlich Halt im Chaos» gibt. Es sei wie mit dem Strichcode an der Kasse im Supermarkt. Die Augen seien im Stand, die Zeichen zu erkennen. Die Worte entsprächen Kanälen, durch die Licht reibungslos gleite.

Teuer verkauft das Zentrum Schriften und Videobänder. Stolz erzählt ein Mitglied, er hätte 250 Berg-Bücher erstanden. Mehrmals wöchentlich veranstaltet das KBL spirituelle Abendessen für 20 bis 30 Dollar. Neu Eintretende lernen, je mehr man spende, desto dankbarer zeige sich Gott, erzählt ein ehemaliger Kabbalist. Er hat das Zentrum inzwischen verlassen – bankrott.

Gründer Berg heilt teuer. Dem Vater eines krebskranken Kindes in Toronto garantierte er ein Wunder gegen Bargeld. Der Rabbi erhielt einen grosszügigen Scheck, das Kind starb binnen Wochen.

Das rote Bank, das die Kabbalisten am Handgelenk tragen, kostet 26 Dollar. Angeblich trägt der Zwirn die Energie des Grabes der Matriarchin Rachel. Er halte Böses ewig fern.

Schätzungsweise dreissig Millionen Dollar verwalten Berg und seine Frau Karen. Sie investieren das Geld in neue Zentren. Von dort tragen sie ihre Ideologie in die Welt. Mission ist Pflicht. Wer ein einziges Treffen besucht hat, wird fortan telefonisch bestürmt beizutreten.

Bergs Absichten reichten übers Finanzielle hinaus, sagt der jüdische Gelehrte Josh Simon. «Er will die Welt lenken.» Angeblich pflegt Berg Kontakte zu Staatschefs und Wirtschaftslenkern. Berg selbst sagt, er berate den marokkanischen König.

Der in Brooklyn als Feivel Gruberger geborene Berg wirkte zuerst als wenig erfolgreicher Versicherungsvertreter. Anfang der Sechzigerjahre zog er nach Jerusalem und heiratete die Nichte des angesehenen Kabbalisten Rabbi Brandwein. Er zeugte acht Kinder. Gruberger sah sich als Brandweins Erbe. Nach dessen Tod investierte er ins Geschäft mit Gott. Er verliess Frau und Kinder, kehrte in die USA zurück. Dort gab er sich als Kabbalist aus, änderte den Namen und gründete das Kabbalah Learning Center – ohne theologischen Abschluss. Den Doktortitel besorgte er sich auf Umwegen. Weder in Israel noch in den USA ist er standesgemäss ordiniert.

Brandweins Familie distanziert sich. Berg sei kein Erbe Brandweins, sagt dessen Exberater. «Das Zentrum entwürdigt die Zohar.» Berg sei ein Nichts.

Kabbala bringe «Friede und Ruhe ins Leben», entgegnet Jonathan, seit zwei Jahren ergebener Jünger Bergs. Mit etwa 200 Kabbalisten feiert er am Stadtrand von Queens Sabbat. Um möglichst viel Licht zu empfangen, tragen die Männer lange weisse Gewänder. Sie beten, tanzen, umarmen sich. Die Kinder spielen im Keller. Die Frauen servieren das Essen, später waschen sie ab. Die Stimmung ist feierlich und sinnlich.

Wer genauer hinsieht, erkennt: Alle Beteiligten sind ständig in Bewegung. Wer mal nicht auf die hebräischen Zeichen starrt, wird von anderen Beteiligten sofort zurechtgewiesen. Weil keiner Musse finde, reflektiere niemand, sagt Kultkenner Ross. «Viele erkennen den wahren Charakter des Kults nicht, oder sie schauen bewusst weg.»

Mit gutem Grund. Wer die Gruppe kritisiert, wird als «Antisemit» oder gar als «Nazi» verschrien. Weil Berg das Gütesiegel des Judentums, einer der Ursprungsreligionen, trägt, blieb er lange Zeit unbehelligt. Kabbalisten, predigt Berg in einem Video, hätten während des Zweiten Weltkrieges den Gaskammern entkommen können. Den anderen Juden mangelte es an «kabbalistischer Kraft». Karen Berg schrieb dazu in «Kabbala», dem vierfarbigen Magazin des Zentrums: «Was einem zustösst, hat man oft verdient.» Als «kompletten Unfug» bezeichnet der New-Yorker Rabbi und Präsident der grössten orthodoxen US-Rabbiner-Organisation, Marc Angel, Bergs Hetzkampagnen. «Wer solches proklamiert, gibt den Juden die Schuld am Holocaust.» Angel ist einer der wenigen, der offen redet.

Viele Kritiker der Kabbalisten fürchten sich: Unlängst verklagten Bergs Anwälte den angesehenen kanadischen Kabbala-Gelehrten Rabbi Immanuel Schochet auf 4,5 Millionen Dollar Schadenersatz. Dieser nannte Bergs Gefolgschaft «Schwindler und Scharlatane». Beschimpft, bespuckt und geschlagen wurde Rabbi Bentzion Kravitz in Los Angeles. Er half einer russischen Immigrantin, die nach einer Fehlgeburt für mehrere tausend Dollar Berg-Bücher gekauft hatte, vom KBL loszukommen. Darauf schickte Berg einen Schlägertrupp in Kravitz’ Haus. Einem anderen Rabbi, der Bergs Praktiken kritisierte, wurde ein Sack mit einem leblosen Schafskopf vor die Haustüre genagelt. Der eingeschüchterte Geistliche schwieg.

Berg verunglimpfe das Judentum und die Zohar, schreibt eine kanadische Organisation. Berg hätte die Kabbala «vereinnahmt, verdreht und zerstört». Die Kabbalisten um Berg kümmern solche Vorwürfe wenig. «Reden ist billig», sagt Hadroon. «Wir brauchen das Judentum nicht. Es wird uns brauchen.»

Rabbi Berg entscheidet über alles. Wer wen heiratet; wer sich scheiden lassen muss; wer wann das Land verlässt oder in ein anderes Zentrum verlegt wird. Karen erteilt und nimmt Frauen das Recht, schwanger zu werden. Sie bestimmt, welche sexuellen Stellungen sich ziemen. Verliebte Paare werden angehalten, ihre Beziehung stets zu hinterfragen.

Streng hierarchisch ist die Struktur bei den Kabbalisten. Auf der untersten Stufe wirken so genannte Plowers, Pflugscharen, die von Türe zu Türe gehen und die Zohar verkaufen. Sie erhalten die strikte Vorgabe, mindestens 5000 Dollar monatlich einzutreiben. Dafür gibts ein Bett, ein bisschen was zu essen und 200 Dollar Lohn. Karen und Phillip Berg hingegen geniessen das gute Leben. Sie liess sich liften, er fährt Cadillacs und spielt gerne in Kasinos.

Stars geniessen bei Berg einen Sonderstatus: Madonna sammelt kein Geld. Sandra Bernhard wäscht kein Geschirr. Liz Taylor putzt niemandem die Schuhe.

Prominente wie diese würden «in kritischen Momenten ihres Lebens» der Sekte beitreten, weiss Ross. Madonna sei vierzig und hätte Mühe, sich stets neu zu erfinden. Liz Taylor stürzt von Krise zu Krise. Sandra Bernhard geriet in ein künstlerisches Tief. Bleiben würden sie, weil sie «erpressbar geworden sind», sagt Ross. Stars werde Hilfe zugesichert, wenn sie Geständnisse ablegten. Geständnisse, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt seien.