Atom Egoyan – «Die Hollywoodfantasie ist Selbstbetrug»

Der kanadische Filmemacher Atom Egoyan hasst Kompromisse. Er fühlt sich nur dann frei, wenn er das Geld der Investoren zurückzahlen kann.

Interview: Peter Hossli

Atom Egoyan, Sie sind Kanadier armenischer Abstammung und kamen in Kairo zur Welt. Woher stammt Ihr sonderbarer Vorname?
Atom Egoyan: Als ich zur Welt kam, begann das atomare Zeitalter. Meine Eltern glaubten, die Zeit sei reif für eine Revolution. Sie nannten mich Atom – als Symbol gegen Kernkraftwerke und das atomare Wettrüsten der Supermächte.

Dann waren Ihre Eltern aufmüpfige Hippies?
Egoyan: Es waren «Protohippies». Meine Schwester Eve wollten sie sogar Molekül nennen. Im letzten Moment änderten sie ihre Meinung. Jetzt heissen wir Atom und Eve. Das ist komisch genug.

Litten Sie denn darunter, Atom zu heissen?
Egoyan: Und wie. Als Kind wünschte ich mir einen normalen Namen, etwa John oder James. Damals versuchte ich, mich um jeden Preis zu assimilieren. Obwohl ich kaum Englisch sprach, wollte ich Kanadier sein. Erst als ich Filmemacher war, realisierte ich, wie viel von mir mit dieser Haltung verloren ging.

Ihre Filme handeln von zerrütteten Familien und Verlust. Sind es Reflexionen Ihrer eigenen Erfahrung?
Egoyan: Zerrüttet war meine Familie nicht. Aber moralische Grundsätze oder religiöse Werte fehlten. Vorbilder hatten wir keine. Das Einzige, was einen Wert hatte, war Kreativität. «Sinn», sagte mein Kunst schaffender Vater, «erhält das Leben erst dann, wenn man Kunst macht.»

Wieso bevölkern perverse Familien, Inzest und Ausbeutung Ihr Werk?
Egoyan: Provokation liegt mir. Sie begann damit, dass ich mir als Kind eine andere Familie ausdachte. Als Armenier an Kanadas Westküste waren wir Outsider. Ich wünschte mir eine Spiesserfamilie.

In ihrem neuen Film «The Sweet Hereafter» vergiftet ein geldgieriger Anwalt mit einer Schadenersatzklage ein friedliches Dorf im Norden Amerikas. Haben Sie etwas gegen Anwälte?
Egoyan: Keineswegs. Das Gesetz wäre das einzige Instrument, um Wahrheit zu finden. Leider hat das Gesetz nichts mehr mit Wahrheit, sondern nur noch mit Geschichtenerzählen zu tun. Recht bekommt, wer die beste Geschichte erzählt.

In «The Sweet Hereafter» lügt ein vom Vater sexuell ausgebeutetes Mädchen. Es erfindet eine Geschichte. So entsteht Gerechtigkeit. In Ihrem Werk erzeugt stets Sünde Wahrheit.
Egoyan: Das ist eine Fehlinterpretation. Es sind Widersprüche, nicht Sünden. Moralische Fragen interessieren mich nicht.

Woraus konstruieren Sie denn Ihr so komplexes Weltbild?
Egoyan: In unserer Kultur leben Menschen, die Bilder machen, und solche, die sich Bilder anschauen. Es ist aber ein Mythos zu glauben, dass jene, die nur schauen, nichts zum Gesamten beitragen. Ich versuche Filme zu machen, die die Leute dazu bewegen, am Prozess teilzunehmen

«The Sweet Hereafter» ist Ihr konventionellster Film geworden.
Egoyan: Das leugne ich nicht. Der Film erzählt eine Boulevardgeschichte. Es geht um ein Unglück, bei dem die Kinder eines ganzen Dorfes sterben. Trotzdem ist vieles nicht konventionell. Nehmen wir den Inzest. Normalerweise wird die Geschichte des Opfers nach dem Verbrechen subjektiv erzählt. Bei mir muss das Opfer eine Geschichte erfinden, um für sich zu klären, warum das alles passiert ist.

Hart gesottene Egoyan-Fans könnten Ihren Film zurückweisen.
Egoyan: Nach «Exotica» hatte ich das Gefühl, die unkonventionelle Filmsprache, die ich seit Jahren verwende, begriffen zu haben. Ich wollte mich selbst überraschen – mit einem Drama und mit Figuren, die dem Publikum nahe sind.

Ist die Bereitschaft zur Konvention der Vorhof zum Mainstream?
Egoyan: Mein Freund, US-Regisseur Gus van Sant, erreicht heute ein Massenpublikum. Ich nicht. Reine Unterhaltung liegt mir nicht. Ich will, dass das Publikum etwas über sich erfährt.

Hollywood interessiert Sie demnach nicht?
Egoyan: Nichts lässt sich einfacher definieren als die Freiheit eines Filmemachers: Frei ist man dann, wenn man das Geld der Investoren zurückzahlen kann. Drehe ich einen billigen Film, kann ich machen, was ich will. Da ich zu keinem Kompromiss bereit bin, werde ich wohl immer billige Filme drehen. Gibt mir Hollywood alle Freiheiten, drehe ich dort.

Wie sähe Ihr Hollywoodfilm denn aus?
Egoyan: In «Titanic» zeigt eine Einstellung den Blick einer Überlebenden aus dem Rettungsboot zurück auf das sinkende Schiff. Ein toller, perverser Blick. Über diesen Moment würde ich gerne einen aufwändigen Film drehen. Kein Studio gäbe mir aber 100 Millionen Dollar dafür.

Es gab Gerüchte, Sie würden an einem Hollywoodfilm arbeiten.
Egoyan: Nach «Exotica» bekam ich von Warner Brothers ein Angebot, einen Thriller zu drehen. Das Thema gefiel mir. Die Struktur war langweilig. Ich dachte, ich könnte sie ändern. Schmerzlich musste ich erfahren: Das geht dort nicht.

Sie mögen Los Angeles nicht?
Egoyan: Es ist verführerisch. Man wird in schönen Hotels untergebracht, hat ständig Sitzungen, spricht tagelang über Ideen und Projekte. Man hat das Gefühl, man arbeite immer. Tatsächlich macht man nichts. So vergehen Jahre.

Wer rettete Sie?
Egoyan: Gilles Jacob, der Direktor des Filmfestivals von Cannes. Er bat mich 1996 in seine Jury. Dort sah ich den neuen Filme von Lars von Trier und David Cronenbergs «Crash». Es wurde mir klar: Das war meine Welt. Hollywoodfantasien zu haben ist für mich Selbstbetrug.