The Truman Show: Immer auf Sendung

Peter Weirs «The Truman Show» zeigt die Amerikaner, wie sie wirklich sind: unwirklich. Sie tun, als wäre das Leben eine Seifenoper.

Von Peter Hossli

Fünfzehn Minuten Rampenlicht stehen jedem zu, sagte einst Pop-Artist Andy Warhol. Hernach verbrachte er den Rest seines Lebens schrill unterm Scheinwerfer, als sei alles nur ein Film. Weniger beflissenen Zeitgenossen spendete er Trost: «Wer einmal den Kopf ins Fernsehen strecken darf, der stirbt sicher glücklich.» Die Television ist Amerikas einzige wahre Vision.

Vor 160 Jahren schon beschrieb der französische Philosoph Alexis De Tocqueville die Amerikaner als kulturell eher denkfaul. Dauernd suchten sie nach Aufregung. So richtig grübeln sei nicht ihre Sache. Dicke und schwierige Bücher läse in der Neuen Welt niemand zum Vergnügen. Lieber gäben sich die Menschen Romanen mit «überwältigenden Gefühlen» hin, oder sie labten sich an «frappanten Veränderungen» und «erdrückenden Wahrheiten».
Hauptsache, es ist was los.

Verändert hat sich seither wenig. Noch immer genügen Alexis De Tocquevilles Worte zur Beschreibung der US-Popkultur. Neu, schreibt jetzt der Film- und Kulturkritiker Neal Gabler, ist jedoch: Nicht nur die Unterhaltung, sondern die gesamte amerikanische Realität ähnle zunehmend einem aufregenden Film oder einer spassigen Vorabend-TV-Serie.

Amerika ist die Republik des Nonstop-Entertainments. Ein Ort, wo alles glänzt, wo sich Menschen überwältigenden Gefühlen hingeben und hoffen, sich an frappanten Veränderungen und erdrückenden Wahrheiten zu laben – als ob überall ständig Kameras filmten. Hauptsache, es ist was los.

Im eben erschienenen Buch «Life the Movie: How Entertainment Conquered Reality» entwirft Kritiker Gabler ein faszinierendes Bild der USA am Rande des Millenniums. Eines, das sich wenig unterscheidet von einem in Regisseur Peter Weirs Film «The Truman Show». Das amerikanische Dasein, zeigt Weir und beschreibt Gabler, ist ein überlanges Movie. Nicht nur fünfzehn Minuten strahlt man im Rampenlicht, sondern immerzu. Jede Frau ist Schauspielerin, die Städte sind Filmsets, die Kleider sind Kostüme, die Dinge Requisiten, der Haarschnitt reine Maskerade, jedes Haus Kulisse. Lebensläufe folgen klassischen narrativen Abläufen – mit Anfang, Mitte und Schluss.

Als seis ein opulenter Film, lebte die Prominenz, Warhol und Konsorten, schon immer. Die Geschichten, die deren Leben schreiben, verpacken und vermarkten die Medien heute allerdings wie Hollywood die grossen Filme – als perfekt designte Blockbuster, die am ersten Wochenende möglichst viel einzuspielen haben. O. J. Simpson wurde zum Strassenfeger, Monica Lewinsky ebenso. Der Nächste, bitte.

Nun, sagt Autor Gabler, wird auch der Alltag von Hinz und Kunz diktiert, von Bildern, die die ultrapräsente Unterhaltungsmaschine fertigt. Nicht bloss Madonna oder Clinton würden ihre ganz persönlichen Filme zelebrieren, auch Mrs. und Mr. Smith. Die USA, mehr als der Rest der Welt, ist Fantasia geworden. Ein Land, geprägt von Film und Fernsehen und geradezu dafür gemacht, die lüsterne Schaulust des sensationshungrigen Publikums immerfort zu befriedigen.

Zuvor hämmerten Hollywoods Bilder über die Jahre die Ästhetik des Entertainments tief ins Bewusstsein. Inzwischen leben Amerikaner ihre Existenz als Dauerakteure. Wer ins Museum geht, mimt den Museumbesucher, an der Party den Partygänger. Private Erlebnisse werden zu geplanten Szenen einer Fortsetzungsserie.

Voraussetzung der fröhlichen Unterhaltungsgesellschaft, sagt Gabler, war die klassenlose Demokratie, die die USA von Beginn weg geprägt hat. In Europas Klassenstruktur hatten alle feste Plätze – Bauer blieb Bauer, Magd Magd, reich reich, arm arm. Extravaganz und Theatralik nahm allein die Bourgeoisie in Anspruch.

Nicht so in Amerika. Dort verlaufen Klassengrenzen seit jeher weniger strikt. Jeder glaubt, seine Träume verwirklichen zu können. Und nirgends prägen Aussehen und Verhalten nachhaltiger ein Image. Will heissen: Nicht Tradition, sondern Stil bestimmt Klasse.

Während Amerikas Arbeiter auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts den Adel dar- und blossstellten, um selbst ein bisschen zum Adel zu gehören, übernahmen im 20. Jahrhundert die Medien diese Rolle. Die Leinwand beförderte das Publikum in gigantische Fabelwelten. Nun hat das Leben das Kino abermals entzaubert: «Die tägliche Show im täglichen Leben», sagt Gabler, «ist die zurzeit auffälligste amerikanische Kunstform.»

Alles ist Film. Alle spielen mit. Die meisten als Komparsen, gelenkt von vifen Regisseuren. Die Inszenatoren der neuen Realität sind nicht Filmer, eher Modemacher, Stadtplanerinnen, Innenarchitekten oder Coiffeure, inspiriert vom Endlos-Pop.

Ralph Lauren etwa, der US-Modeschöpfer, erkannte schon früh die wahre Funktion alltäglicher Mode als Kostüm. Er entwarf Kolonialgewänder, kurze beige Hosen und Hemden, wie in «Out of Africa». Seine Jeans erinnern an Urcowboy John Wayne. Wer sich mehr leisten kann, dem schneidert Lauren feingarnige britische Adelsgewänder.

Moderne Modemacher wie Lauren oder Calvin Klein belassen es nicht bei Kleidern. Es sind Image-Manager, die auch Uhren oder Parfüm designen. Ständig bieten sie wechselnde Lebensstile feil. Leisten kanns sich fast jeder. Designer-Klamotten und Accessoires kosten nicht mehr die Welt, die sie bedeuten. Mit billigen Zweitlinien gaben Lauren, Klein oder Donna Karan der US-Mittelklasse, ansonsten eher biederer Natur, Sinn für Ästhetik – abgeleitet von Hollywood.

Die besten Filme spielen in Städten. Die gibts in den USA, abgesehen von der Ostküste, nirgends. Man lebt und arbeitet in Suburbia. Also entwerfen Architekten künstliche Urbanität. In Los Angeles etwa parkiert man im Parkhaus, um durch den City Walk in Universal City zu schlendern, einer Fussgängerzone, umgeben von Highways. Am East River in New York hat Bürgermeister Rudy Giuliani das verfallene Hafenquartier in seiner alten Form herrichten lassen. Jetzt ists eine Erlebnis-Mall und ein Erlebnis-Museum zugleich, flankiert von Neon-Erlebnis-Restaurants im Stil von «Planet Hollywood». Wer hier isst, isst wie ein Star. Gleichzeitig schloss Giuliani Sexshops und verbannte Prostituierte und Drogen. New York will er clean halten, als neourbane Entertainment-Zone.

Nie zuvor wechselten darin die Menschen öfter ihre Rollen, nach Lust und Laune. Höchstens Talent, Geld oder Aussehen beschneiden die Wahl des Genres. Jüngstes und skurrilstes Beispiel: der Catcher Jesse Ventura. Jahrelang stand er im Ring und vertrimmte andere Muskelpakete. Dann heuerte ihn Arnold Schwarzenegger für seine Filme an. Als ihm die Schauspielerei zu blöd wurde, bewarb er sich als Gouverneur in Minnesota. Letzte Woche wurde Ventura gewählt. «Eine Karriere à la Hollywood», schrieben die Kommentatoren. Eine Show. Wie ein grandioser Method-Actor leitete er aus der Fiktion Realität ab.

Wer dazu Rat und Hilfe braucht, kann sich von inzwischen schon rund 1500 «Life Coaches» zum Happy End oder einfach nur zum «guten» Leben führen lassen. «Gut» bedeutet filmreif. Während gutes Kino einst reales Kino war, gilt nun als gutes Leben, was möglichst filmähnlich, also übergross, ist.

«Ein Lebenstag ist wie ein Tag im Fernsehen», sagte Andy Warhol, lange vor der «Truman Show». Das Fernsehen starte am Morgen und ende am Abend, wie der Tag. «Der ganze Tag ist wie ein Film.» Inzwischen wird 24 Stunden gesendet.