New York – Tagtäglich tausend Filmgeschichten

Keine Stadt wurde auf der Leinwand öfter und liebevoller verehrt als New York. Wer durch die Strassen Manhattans geht, fühlt sich wie mitten in einem Film.

Von Peter Hossli

Nichts beschert Filmproduzenten aus Los Angeles grösseren Spass, als Manhattan zumindest fiktiv in Schutt und Asche zu legen. King Kong kratzte schon 1933 am Empire State Building. Heuer fällt in aufwendigen Hollywoodproduktionen gleich dreimal die Art-deco-Spitze des Chrysler Building auf die 42. Strasse: in “Godzilla” und in den beiden Asteroidenfilmen “Deep Impact” und “Armageddon”. Grund für die anhaltende filmische Zerstörungswut Hollywoods sei blanker Neid, sagt eine Trickfilmerin aus Manhattan. “An keine Stadt gibt’s im Film schönere Liebeserklärungen als an New York.”

Wie wahr. Nicht bloss der New Yorker Stadtneurotiker Woody Allen huldigte Manhattan im gleichnamigen Film. Seit der Frühzeit des Films ist die Stadt am Hudson River bevorzugte Kinokulisse. Hier rannte in der Stummfilmzeit Komiker Harold Llyod um sein Leben, hier schaute Superman zum rechten, hier gewann und verlor die Familie Corleone in Francis Coppolas “Godfather”-Serie die Oberhand über die Mafia. Im Central Park paddelte Woody Allen mit Diane Keaton, stritten sich Dustin Hoffman und Meryl Streep in “Kramer vs. Kramer” ums Sorgerecht für ihren Sohn. Im Stadtteil Brooklyn scheiterte Al Pacino als Bankräuber (“Dog Day Afternoon”), und Harvey Keitel empfing in seinem Zigarrenladen in “Blue in the Face” Jim Jarmusch und Madonna.

Sekretärinnen in Turnschuhen

Fast jede noch so abstruse architektonische Besonderheit New Yorks war schon auf der Kinoleinwand zu sehen. Sogar die ausgesprochen hässliche Luftseilbahn, die die Schlafinsel Roosevelt Island im East River mit Manhattan verbindet: Sylvester Stallone rettete auf ihr 1981 im Actionkrimi “Nighthawks” New York vor einem deutschen Terroristen.

Wer als Besucher durch Manhattan spaziert oder im Taxi einer der breiten Avenues entlangfährt, hat stets das Gefühl, mitten in einem Film zu sein. Die Taxis sind so gelb wie im Kino. Die Italiener reden genauso theatralisch gebrochen Englisch wie in “The Godfather”. Jüdische Intellektuelle strahlen dieselbe nervöse Unruhe aus wie die geistreichen Figuren Woody Allens. Und die Sekretärinnen im Wallstreet-Distrikt tragen zum Rock und den schwarzen Strümpfen nach wie vor weisse Socken und weisse Turnschuhe – wie einst Melanie Griffith in “Working Girl”. Sogar das Restaurant, in dem Meg Ryan in “When Harry Met Sally” einen Orgasmus vorspielte, gibt es.

Unverwechselbare Filmkulisse

New Yorker Telefone, Brückenpfeiler und Parkanlagen, Menschen, Lofts oder die hohen, gusseisernen Fassaden der Gebäude im schicken Stadtteil Soho verströmen eine einzigartige filmische Erotik. New York ist gelebtes Leben, fernab vom klinisch sauberen Rest Amerikas, und eignet sich deshalb wie keine andere Stadt fürs Kino. Hier stinkt die Subway im Sommer, hier hat es mitten in Manhattan noch einen Fischmarkt und veritable Fleischpacker. Man liebt, lebt und arbeitet neben- und aufeinander.

Täglich entstehen so tausend Geschichten, wie sie die Regisseure Martin Scorsese, Brian De Palma oder Robert De Niro, Billy Wilder, Milos Forman oder Elia Kazan nacherzählten. Geschichten, die nur in New York spielen können. In einer L.A.-Version hätten sich die Messerhelden in “West Side Story” von Autos aus mit Schnellfeuerwaffen beschossen. Die explosive Stimmung am heissesten Sommertag des Jahres 1989 in Spike Lees “Do the Right Thing” hätte in Dallas, Texas, eine Klimaanlage weggekühlt. Und die Szene in Billy Wilders “Seven Year Itch” beim Times Square, als Marilyn Monroes weisser Rüschenrock hochgewirbelt wird vom Wind eines unter ihr durchfahrenden Subway-Zuges, wäre nirgendwo sonst zur Geltung gekommen. Denn wer bewegt sich in Amerika ausserhalb von New York schon zu Fuss fort?

Vieles aus Hollywoodstudios

Trotzdem: Alles ist auch in New York nicht so wie im Film. Beim Gang durch die Strassen hört man Polizeisirenen und donnernde Lastwagen, nicht den Song “I Put a Spell on You” wie einst in Jim Jarmuschs “Stranger than Paradiese”. Und auf dem Empire State Building, dessen Spitze man erst nach langem Warten erreicht, fuchteln gelangweilte Touristen mit Videokameras herum. Weit und breit keine Liebespärchen à la Tom Hanks und Meg Ryan, die sich in Nora Ephrons “Sleepless in Seattle” auf dem Wolkenkratzer innig umarmten.
Wo die Realität nicht passt, schafft Hollywood Abhilfe. Auf den Studiogeländen in Los Angeles stehen New Yorker Häuserreihen aus Holz und Karton. Viel von dem New York, das wir aus dem Kino kennen, ist dort entstanden: Regisseur Matthew Modine etwa drehte auf dem Gelände seinen ersten Kurzfilm. Er war froh, “New York nicht im lauten New York, sondern in kalifornischer Gelassenheit inszenieren zu können”.

Filmindustrie boomt in N.Y.

Auch Spike Lee liess die Subway für seinen Telefonsex-Film “Girl 6” in Hollywood nachbauen. Selbst der Ur-New-Yorker Martin Scorsese hatte schon 1973 die meisten Einstellungen seiner Hommage an die Lower East Side, “Mean Streets”, in Hollywood gedreht – aus Kostengründen.

In New York zu drehen war lange Zeit umständlich und teuer: zuviel Verkehr, zuwenig Platz, kaum ausgebildete Filmcrews, zu starke Gewerkschaften. Mit dem 1993 gewählten republikanischen Bürgermeister Rudolph Giuliani hat sich das alles geändert. Er erkannte das Potential der Kinoindustrie und wies die städtische Filmabteilung an, möglichst viele Dreherlaubnisse auszustellen. Seither erlebt die Filmstadt New York einen Boom. Kein Wirtschaftszweig wächst in New York zurzeit schneller als die Kinoindustrie. Insgesamt 2,37 Milliarden Dollar wurden 1997 für Film- und Fernsehproduktionen ausgegeben. Ein Rekord.

Schon früher Filmmetropole
Bereits um die Jahrhundertwende und lange vor Hollywood war New York Dreh- und Angelpunkt des US-Kinos. Bis Ende des Ersten Weltkrieges florierten Studios in den Stadtteilen Manhattan, Queens, in der Bronx, in Brooklyn sowie im benachbarten New Jersey. Filmpionier Thomas Edison baute dort sein erstes Studio. Später folgten ihm die beiden Regisseure D. W. Griffith und Edwin Porter. Heutige Hollywoodriesen wie Fox und Paramount starteten in New York. Die Marx Brothers drehten in Astoria, Queens, im selben Studio, das Frauenschwarm Rudolph Valentino und Stummfilmstar Gloria Swanson erste Aufträge erteilte.

Erst als die Filmer mehr Platz beanspruchten, um 1920 herum und später, gingen viele nach Kalifornien. Dort gab es billigen Boden und konstanteres Licht als im oft tristen und nasskalten New York. Doch einige Filmemacher blieben auch zurück in der alten Filmmetropole. Sie hatten zwar weniger Geld, aber oft mehr Talent als die Fliessbandfilmer in L.A.

Stars
Wer Glück hat, trifft in Manhattan Schauspielerinnen, Regisseure oder Drehbuchautoren beim Einkaufen, in Restaurants oder im Kino. Wer wo lebt, isst oder sich die Haare schneidet, steht im Buch “New York City Starwalks” von Larry Wolfe Horwitz, St. Martin’s Press, 12.95 $.

Kinos
In New York gibt es 67 Kinos. Ausländische Filme werden immer in der Originalversion mit Untertiteln gezeigt. Eintritt zwischen 8.50 und 9 $ (Ermässigungen für Kinder und Senioren). In vielen Multiplexkinos kann man nach Filmende leicht in die nächste und übernächste Vorstellung schleichen. Man wird nur einmal kontrolliert.

Der grösste Kinosaal
Das “Ziegfield” ist das Kino mit dem grössten Saal (der auch einer der schönsten ist). 54th Street, Ecke 6th Avenue.

Das grösste Kino
Sony Lincoln Square & Imax Theatre, 1992 Broadway, Ecke 68th Street. Subway: 1 und 9 bis 66th Street – Lincoln Center. Programmauskünfte: Tel. 212-336-5000. Auf zwölf Leinwänden sind jeweils fast alle neuen Filme zu sehen. Dazu ein 3-D-Imax-Kino.

Kinoprogramm
Telefonisch: 212-777-3456.
Web: www.movielink.com oder www.newyork.sidewalk.com.
In der “New York Times” ist jeweils freitags das vollständige Kinoprogramm abgedruckt. Unter der Woche inserieren die Verleiher. Kompetente und pointierte Filmkritiken findet man im “New Yorker”. Als Stadtmagazin hat das aus London importierte “Time Out New York” die alteingesessene “Village Voice” bezüglich Qualität verdrängt. Zeiten und Kinos sind in “Time Out” einfacher zu finden.

Spezialprogramme
American Museum of the Moving Image, Ecke 35th Avenue und 36th Streeet, Astoria, Queens. Subway: R bis Steinway Street. Auskünfte: 718-784-0077. Im Eintrittspreis (8 $) sind jeweils am Samstag und Sonntag Filmvorführungen enthalten. Meist themenbezogene Retrospektiven.
American Museum of Natural History, Ecke Central Park West und 79. Strasse. Subway: B und C bis 81st Street. Programmauskünfte: 212-769-5034. Grossflächige Imax-Filme, meist über Natur und Technik.
Angelika Film Center, Ecke Houston und Mercer Street. Subway: B, D, F, Q bis Broadway-Lafayette; N, R bis Prince Street. Programmauskünfte: 212-777-3456, extension 531. Das Multiplexkino fürs Studiofilmpublikum. Hip. Besonders am Wochenende empfiehlt es sich, früh zu kommen.
Anthology Film Archives, Ecke Second Avenue und 2nd Street. Subway: F bis Second Avenue, 6 bis Bleeker. Programmauskünfte: 212-505-5110. Europäische oder amerikanische Experimentalfilme, historische Filme, ausgesuchte Retrospektiven.
Film Forum, 209 West Houston Street. Subway: 1,9 bis Houston Street. Programmauskünfte: 212-727-8110 oder www.filmforum.com. Regelmässig europäische Spielfilme, Dokumentarfilme und ausgesuchte Reprisen.
Knitting Factory, 74 Leonard Street. Subway: A, C, E, N, R, 6 bis Canal Street. Programmauskünfte: 212-219-3055. Unabhängige New Yorker Undergroundfilmer, Videokunst.
Museum of Modern Art, 11 West 53rd Street. Subway: B, D, F, Q bis 47-50th Street-Rockefeller Center. Programm: Tel. 212-708-9480 oder www.moma.org. Im Museumseintritt (9.50 $) enthalten ist der freie Eintritt in Filmvorführungen. Oft thematische oder personenbezogene Retrospektiven. Experimentalfilme. Das Museum verfügt über ein eigenes Archiv mit Filmen und Fotos, das Filmwissenschaftlern offensteht. Einige der MoMa-Filme sind im Verleih.
Walter Read Theater/Film Society of Lincoln Center, 70 Lincoln Center Plaza. Subway: 1, 9 bis 66th – Lincoln Center Street. Programmauskünfte: 212-875-5600. Eine Art Filmpodium. Gepflegte, eher konservative Programmierung.
Filmausbildung
New York University Tisch School of the Art. Auskünfte über Aufnahmebedingungen: www.nyu.edu/tisch/filmtv.
html. Renommierteste Filmschule in New York. Hier lernten Regisseure wie Martin Scorsese, Jim Jarmush, Spike Lee oder Oliver Stone.

Filmplakate
Movie Star News, 134 West 18th Street. Zwischen 6th und 7th Avenues. 212-620-8160. Enorm grosse Auswahl an aktuellen und historischen Filmpostern und Standfotos. Eine Fundgrube.

Beste Videothek
Kims Video, mit vier Lokalitäten (www.kimsvideo.com).
East Village: “Kims Mondo”, 6 Saint Marks Place, 212-505-0311, “Kims Avenue A”, 85 Avenue A, 212-529-3410.
Greenwich Village: “Kims Underground”, 144 Bleecker Street, 212-260-1010, “Kims West”, 350 Bleecker Street, 212-675-8996.