SR 111 – Allein mit dem Meer und den Toten

Krampfhaft versucht Peggy's Cove vier Wochen nach dem Absturz von Flug SR 111 zur Normalität zurück zu kommen. Es gelingt nicht.

Von Peter Hossli

Fanpost erhält Jim Buckley täglich, oft mehrere Briefe. In der Nacht des 3. September, als die Swissair 111 abstürzte, steuerte der 44-jährige lizenzierte Kapitän und Fischer aus Peggy’s Cove als Erster einen Kutter aufs offene Meer. Er wollte Überlebende retten – und blieb erfolglos. Geknickt beschrieb er anderntags vor Fernsehkameras grausige Funde und unerträgliche Kerosindämpfe. Ein beissender Gestank sei ihm in jener frostigen Nebelnacht in die Nase gestochen. «Der Geruch des Todes», sagt Buckley. Per Satellit gingen seine Geschichten dann um die Welt.

Knapp vier Wochen nach dem fatalen Absturz, bei dem vor der kanadischen Atlantikküste 229 Menschen starben, öffnet Kapitän Buckley noch immer Anerkennungsschreiben, meist aus den USA.

Drohbriefe sind eher die Ausnahme. «Mach dir keine Sorgen», kritzelte ein anonymer Schreiber mit US-Poststempel, «auf dem Flieger sassen bloss Horden reicher Juden, die in der Schweiz ihr erschlichenes Geld verstecken wollten.»

Adressat Buckley, einer der sechzig Einwohner von Peggy’s Cove, sucht inzwischen Hilfe bei einem Psychiater. Dessen erste Diagnose: posttraumatisches Stresssyndrom. «Mir ist dauernd schwindlig», sagt Buckley.

Eigenartig mutet Peggy’s Cove Ende September an. Krampfhaft versucht das schmucke, rund 50 Kilometer südwestlich von Halifax gelegene Fischerdörfchen, etwas Normalität zurückzuerlangen. Verschwunden ist die gespenstische Ruhe der ersten Unglückswoche, als das Dorf nur Angehörigen der Opfer, Behörden, Swissair-Leuten sowie Medienschaffenden offen stand.

Jetzt gleicht Peggy’s Cove einem überquellenden Disneyland, wie geschaffen für Kodak, Agfa oder Fuji. Vierzig Tourbusse, meist vollgepackt mit agilen Senioren und violetthaarigen Rentnerinnen, halten hier täglich. Grayline Tours, Sunshine Tours, Nova Scotia Tours. «So viele wie vor dem Crash», sagt Fischer Murray Garrison, der am Schiffsteg eine kleine Beiz betreibt. Seit einer Woche serviert er über Mittag wieder frisch gefangenen Hummer. Geblieben ist beim Wirt ein Unbehagen. Seine Gäste blicken beim Essen direkt auf den hölzernen Steg, wo die Küstenwache und die Navy in Gummibooten Leichenteile ans Land bringen. «Keine appetitliche Aussicht», sagt Garrison. Auf der Dorfstrasse stauen sich Motorhomes und Personenwagen aus Virginia, Ontario, Ohio, Florida, Connecticut. Ein Polizist weist den Ausflüglern Parkplätze zu.

Über 700 000 Besucher verzeichnet Peggy’s Cove jährlich. Alle fotografieren den pittoresken Leuchtturm, der nebenbei als Postamt dient. An dessen Fuss liegen jetzt Hunderte verdorrter Blumen, ein verwelkter Kranz des französischen Botschafters, eine Bibel, ein Koran, das Buch der Mormonen. Ein gerahmtes Foto zeigt zwei Mädchen, Teenager, aufgenommen in New York. «We miss you», wir vermissen euch, steht unter dem Bild.

Noch immer treffen im entlegenen Nordosten Kanadas Angehörige der Absturzopfer ein. Begleitet von einem Offizier der Royal Canadian Mounted Police schreitet ein älteres Ehepaar an den Rand der abfallenden Klippe. Er schirmt sie vor Schaulustigen ab. Dann füllt er eine Flasche mit Meerwasser und wirft Rosen in den Atlantik. Zwei Amerikaner sind erst jetzt gekommen, weil sie während Wochen nichts vom Crash wussten – auf ihrer längeren Chinareise lasen sie keine Zeitung.

Andere mögen in Stille, nicht inmitten der Aufregung Abschied nehmen. Einige kommen ein zweites Mal. Sie holen Überreste der Verstorbenen ab.

Rund um die Uhr betreut nach wie vor ein Polizei-Kaplan Anverwandte auf dem Felsen in Peggy’s Cove und im Hangar A auf dem Militärstützpunkt Shearwater in Dartmouth. Dort lagern persönliche Effekten: Kleider, Geld, Spielzeuge. «Anfang Oktober», sagt Kaplan Bill Burke, «reduzieren wir den Betreuungsdienst auf zwölf Stunden.» Den angereisten Familien muss er klar machen, warum der Hangar B selbst für sie tabu bleibt. Dort, neben der zerfetzten MD-11, lagern die bis anhin geborgenen, zerfetzten menschlichen Überreste. Da per Auge keine Identifikation möglich ist, mache es wenig Sinn, Angehörige ins temporäre Leichenschauhaus zuzulassen, sagt Burke. «Der Anblick wäre zu schrecklich.»

Bis Beginn dieser Woche hat das Team des leitenden Arztes, Doktor John Butt, 32 der 229 Opfer identifizieren können, 20 auf Grund von Zahnstellungen, 10 mittels Fingerabdruckvergleich, erst zwei mit Hilfe des komplexen Verfahren, bei dem die Erbinformation DNS analysiert wird. «Weil die Qualität des Materials so schlecht ist», sagt Doktor Butt, «ist die DNS-Analyse schwierig und langsam.» Viele der Körperteile sind klein und fragmentiert, zu schnellen Resultaten führen sie nicht. Die möchte Butt aber unbedingt liefern, «wegen der Familien». Sie wollen Klarheit über den sicheren Tod.

Hat Butt einen Leichenbestandteil identifiziert, stellt er den Totenschein aus und benachrichtigt die Verwandten, stets persönlich. «Für mich ist das eine immens wichtige Genugtuung», sagt er. Wer will, kann sich die Überreste zuschicken lassen. Viele warten zu. Sie hoffen, es werden mehr Stücke gefunden. Bis anhin sind es höchstens zehn Prozent.

Schnell schliesst die Natur die meist faustgrossen Teile in ihren Kreislauf ein. Ein «de-gloving» hat beim massiven Aufprall des Flugzeug aufs Wasser innert Sekundenbruchteilen Muskeln, Haut, Gewebe und Fett von den Skeletten gerissen, abgestreift wie lose Handschuhe von den Händen. Nun tummeln sich Krabben, Hummer und Haie bei der Fundstelle von SR 111, sieben Seemeilen südlich von Peggy’s Cove.

Die Grösse der Fundstelle umfasse 2100 Quadratmeter, 30 auf 70 Meter, sagt der Kommandant des Navy-Bergungsschiffes «HMCS Halifax», Greg Aikins. Er steht auf dem hinteren Deck unweit des Helikopterlandeplatzes und weist drei Seeleute an, eines der orangen Zodiac-Gummiboote ins Wasser zu lassen. Es soll Trümmer und in weisse Plastikbeutel verpackte menschliche Überreste von der 500 Meter entfernten «USS Grapple» holen. Das amerikanische Bergungsschiff kam bereits beim Absturz des TWA-800-Jumbos vor Long Island zum Einsatz. «Die Suche nach Opferresten hat absolute Priorität», sagt Kommandant Aikins. Bevor diese in den Hangar B gelangen, sortiert Navy-Arzt Danny Noyes sie auf der «HMCS Halifax» nach Gewicht und Umfang.

Commander Aikins hofft, die gross angelegte, «horrend teure Aktion» bis Ende Oktober abschliessen zu können. Spätestens dann fegen Winterstürme über den Atlantik. Die Taucher, die 60 Meter tief gehen, müssten ihre Arbeit beenden.

Ohne Taucher geht nichts. Dreissig Minuten dauert jeder Tauchgang. Auf dem steinigen Meeresgrund sammelt jeweils ein Zweierteam Trümmer und Überreste der Opfer ein.

Um möglichst effizient zu tauchen, erstellt eine ferngesteuerte Kamera jeden Morgen eine exakte Karte des mit fussballgrossen Steinen bedeckten Meeresbodens: «HR 7», «HR 10», «HR 12», sieben, zehn und zwölf «human remains», menschliche Überreste, zeigt die Karte. Sie liegen direkt bei der «burnt area», dem Trümmerfeld.

Tauchleutnant Gary Peddy hat an diesem Freitag den Auftrag, bei einer Sichtweite von zehn Metern zuerst «HR 7», «HR 10», dann «HR 12» zu finden. Verbleibt etwas Zeit, wird er ein paar der spitzen und messerscharfen Blechteile der MD-11 in den heruntergelassenen Korb werfen. Den hievt der graue Kran der «Grapple» an die Oberfläche.

Oben wartet ein Navy-Psychiater. Wer will, kann mit ihm über das Erlebte sprechen. Um dem psychischen Stress besser Stand zu halten, verbringen jeweils zehn Taucher und zehn Seeleute die Nacht an Land mit ihren Familien – für die Navy eher unüblich. «Es hebt die Moral», sagt der Schiffskommandant.

Unweit der «USS Grapple» liegt Pearl Island, eine unter Naturschutz gestellte Insel, auf der seltene Vogelarten nisten. Im Meer davor treffen sich im Herbst oftmals sieben verschiedene Walarten. Diverse Delfine spielen mit den Wellen und suchen Nahrung. «Ein magischer Ort», beschreibt Fischer Jim Buckley die Stelle, wo die Swissair 111 niederging. Ein brüchiges wie reiches Ökosystem. «Nicht einfach ein schwarzes Loch, wo jetzt der Tod für immer hockt», sagt Buckley. Er organisiert täglich Wal- und Delfinbeobachtungsfahrten nach Pearl Island.

Nun ist die Saison dahin. Nach Pearl Island darf niemand mehr, die Absturzstelle ist nach wie vor abgesichert, wohl noch Monate. Bereits gebuchte Touristen aus Kalifornien und Florida musste Buckley aufs nächste Jahr vertrösten. «Wenn die sensiblen Viecher überhaupt wieder kommen», sagt Buckley. Er fürchtet, der Crash und die Suchaktion vertreibe die majestätischen Meeressäuger für immer.

Die Menschen, die in Peggy’s Cove und in Halifax innerhalb weniger Stunden Soforthilfe geleistet haben, spüren jetzt, vier Wochen nach dem Einschlag, die Nachwirkungen, finanziell wie psychisch. Nach der Aufregung folgt die Ernüchterung. Der kanadische Premier und der Schweizer Bundespräsident sind weg, die Erinnerungen bleiben. In Zeitungsinseraten bietet das Rote Kreuz den vielen Helfenden kostenlos Krisenintervention an. Hunderte machen bereits in der ersten Woche davon Gebrauch.

Eine Frage beschäftigt alle: Wer bezahlt – die Swissair oder der kanadische Staat? Schätzungsweise 100 Millionen Dollar kosten Bergung und Erhebung der Ursache. «Darüber wird wohl lange gestritten», sagt Vic Gerden, Leiter der Untersuchungen.

Den lokalen Fischern bietet die Swissair vorerst 25 000 kanadische Dollar in einem Fonds an. «Ein lachhafter Betrag», sagt Fischer Murray Garrison. Knapp 300 Familien leben in St. Margaret’s Bay, der Unglücksbucht, vom Fischfang.

Dabei ist der Verdienstausfall beträchtlich. Mitte August bis Ende Oktober weisen Thunfische einen hohen Fettgehalt auf. Japanische Händler bezahlen dann vierzig Dollar das Pfund. Ein einziger Fisch bringt 20 000 Dollar. Obwohl in Peggy’s Cove längst mehr Anwälte als Journalisten Fragen stellen, verzichten die meisten trotzdem auf Klagen. «Wir sind keine geldgierigen New-Yorker», sagt Garrison, «wir wollen bloss unser Auskommen, unsere Würde sichern.»

Der Absturz der Swissair 111 prägt Halifax. Jeder hat hier eine Geschichte parat, schildert im Pub oder im Café, was er in der ersten Nacht gemacht hat. Zuweilen entstehen wildeste Fantasien. Ein lokaler Fotograf möchte unbedingt die Heckflosse des Swissair-Fliegers ablichten. Ein US-Magazin hat ihm für das Bild 50 000 Dollar geboten, «wenn das Schweizer Kreuz intakt ist».

Nur ein paar lokale Reporter stampfen noch durch Peggy’s Cove. Auch das Militär reduziert allmählich sein Aufgebot. Entlang der Küste wird die Suche eingestellt. Ende Oktober laufen die Bergungsschiffe aus. Die Crash-Spezialisten gehen dann weiter nach Ottawa. «Wir aber bleiben», sagt Wirt Garrison, «wir, mit dem Meer und den 229 Toten.»

Abschiedsworte der Piloten

Der Voice-Recorder der SR 111 nahm die letzten Grüsse der MD-11-Piloten auf. Sie dürfen nicht veröffentlicht werden.

Um ein Uhr dreissig in der Nacht trafen Kapitän Jim Buckley und seine fünfköpfige Crew am 3. September bei der Absturzstelle der SR 111 ein. Sie waren die Ersten. Lebende Passagiere bargen sie keine. Stattdessen, erzählt Buckley, sahen sie, wie ein grosses Stück des Unglücksfliegers im dort zwanzig Meter tiefen Meer versank. Das Geschehen erinnerte Buckley an die Schlussszene des Hollywoodfilms «Titanic»: im Nebel schwimmende Leichenteile und ein enormes Stück Eisen, das krachend versinkt, danach lang anhaltende Stille.

Doch die kanadische Küstenwache und die Navy sowie das Bergungsschiff «USS Grapple» suchen seit Wochen etwa zwei Meilen entfernt von jener Stelle, die Buckley beschreibt. Dort reicht das Wasser sechzig Meter in die Tiefe. «Sie suchen am falschen Ort», sagt Buckley.

In einer Bar in Halifax skizziert er seine verworrene Theorie auf eine Papierserviette. «Es wird vieles verheimlicht», ist er überzeugt. Es gebe drei auf einer etwa vier Meilen langen Geraden verteilte Trümmerfelder, nicht bloss eines. Selbst die Flugroute vor dem fatalen Crash zweifelt er an. Buckley will gesehen haben, wie die MD-11 der Swissair direkt über sein Haus in Peggy’s Cove flog – auf dem offiziellen, vom Transportation Safety Board of Canada veröffentlichten Flugplan umflog Pilot Urs Zimmermann das Fischerdorf jedoch nordöstlich. Buckley glaubt, eine Explosion an Bord gesehen zu haben. Die blaue Stichflamme werde er «nie vergessen».

Ins «Reich der Gerüchte» stellt der Leiter der kanadischen Untersuchungsbehörden, Vic Gerden, Buckleys Theorie. «Wir veröffentlichen alles, was wir wissen», sagt Gerden, der noch immer nicht schlüssig erklären kann, warum das Flugzeug niederging.

Trotzdem wird vermutet, dass Gerden Informationen zurückhält. Laut Informationen von Facts sollen sich Urs Zimmermann und sein Kopilot Stephan Löw vor dem totalen elektrischen Ausfall, sechs Minuten vor dem Crash, mit bewegenden Worten von ihren Angehörigen verabschiedet haben. Dies würde bedeuten, dass die beiden den drohenden Absturz bereits einige Zeit im Voraus realisiert haben müssen. Das Gespräch wurde vom Cockpit-Recorder aufgezeichnet. «Laut kanadischem Gesetz», sagt Gerden dazu, «dürfen wir solche Gespräche nicht veröffentlichen.» Er schweigt lange. «Das Gesetz schreibt vor, die Privatsphäre der Verstorbenen in jedem Fall zu schützen.» Die Airlines haben zusätzlich untereinander Abmachungen mit demselben Ziel getroffen.

Nicht nur Gespräche

Immerhin bestätigt Gerden, dass der Cockpit-Recorder nicht nur Gespräche zwischen Piloten und Crewmitgliedern, sondern auch diverse Raumtöne aufgenommen hat, die bei den Ermittlungen wichtig sind. Zu hören ist etwa das Öffnen und Schliessen von Türen, sagt Gerden. Die Aufklärung der Unfallursache sei enorm schwierig, sagt Gerden. Weil die Maschine in Hunderttausende kleine Teile zerplatzt ist, verzichtet Gerden darauf, das Flugzeug dreidimensional nachzubauen. Das wäre zu teuer und zu langwierig. Zudem könne man vieles in Computermodellen simulieren.

Dass die ganze Untersuchung Millionen verschlingt, kümmert ihn wenig. Er möchte um jeden Preis die Ursache finden. «Damit eine solche Katastrophe nicht mehr möglich ist», sagt Gerden.