Streit um Holocaust-Lehrstuhl

Die Frage, ob an amerikanischen Universitäten ein Studienfach Holocaust eingeführt werden soll, ist unter Juden höchst umstritten.

Von Peter Hossli

Die Fakten sind längst bekannt, die meisten Zahlen liegen auf dem Tisch. Akribisch errechnete der US-Historiker Raul Hilberg bereits 1961, wie viele Jüdinnen und Juden die Nazis während des Zweiten Weltkriegs ermordet hatten.

5,1 Millionen starben gewalttätig in Gaskammern oder durch Gewehrkugeln. In Auschwitz eine Million, in Treblinka 750 000. Deutsche, Österreicher, Ukrainer oder Litauer erschossen im freien Feld 1,3 Millionen Juden. Über ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Europas wurde zwischen 1933 und 1945 getötet.

Warum dieses monströse Verbrechen aber verübt wurde, ob und wie der jüdische Widerstand funktionierte, was die Täter antrieb oder wie die Überlebenden heute zurecht kommen, ist nach wie vor nicht klar – trotz Tausender Bücher, etlicher Holocaust-Museen, Debatten, Spiel- und Dokumentarfilme.

Abhilfe schaffen sollen die Universitäten, fordern in den USA seit Jahren jüdische und nicht jüdische Gelehrte. Es werde zu wenig geforscht und oft mangelhaft gelehrt. Ein beachtlicher Teil der vorliegenden Untersuchungen sei fehlerhaft und methodisch schwach. Nur eigens geschaffene Lehrstühle für so genannte Holocaust-Studien könnten die offenen Fragen beantworten, akademisch und frei von politischen Zwängen. Das Bedürfnis sei «enorm, auch von Nichtjuden», sagt Hilberg.

Doch ein solcher «Lehrstuhl gegen das Vergessen», wie «Die Zeit» den geplanten Studiengang einst pries, ist in den USA höchst umstritten. Die Debatte spaltet die Juden. Die einen sagen, der Holocaust sei ein einzigartiges Ereignis. Je mehr Aufmerksamkeit er an Universitäten erhalte, desto stärker bleibe er im Gedächtnis haften. Andere befürchten, die Fokussierung auf die umfassendste Vernichtung der Juden verhindere das Verständnis jüdischer Kultur.

Der Streit, einst ausschliesslich in akademischen Zirkeln geführt, wird nun offen ausgetragen. Vorletzte Woche publizierte die «New York Times» eine viel beachtete Kontroverse zwischen einer Gegnerin und einem Befürworter.

Auslöser des Konflikts war eine Nichtbesetzung. An der Harvard University in Cambridge bei Boston, der renommiertesten Lehrstätte in den USA, kamen Holocaust-Studien trotz einer privaten Spende in Millionenhöhe nach monatelanger Zankerei nicht zu Stande. «Weil die nostalgischen Juden sie verhindert hatten», sagt Hilberg. «Weil es keine valablen Kandidaten gab», entgegnet die Professorin für jiddische Literatur in Harvard, Ruth R. Wisse, «und weil es in Harvard nicht einmal einen Lehrstuhl für jüdische Geschichte gibt.» Der Direktor des Zentrums für jüdische Studien an der University of Boston, Steven T. Katz, sieht in der überraschenden Vereitelung vornehmlich Futterneid. «An Holocaust-Vorlesungen kommen jeweils 500 Studierende», sagt Katz. «Den Talmud aber mögen vielleicht noch fünf studieren.»

Die erhoffte Wirkung eines Holocaust-Lehrstuhls in Harvard auf andere Universitäten bleibt vorerst aus. Gerade an drei US-Hochschulen wird über die Schoah gesondert unterrichtet. An allen anderen ist sie Teil von Lehrveranstaltung in den Fächern Geschichte, Politologie oder jüdische Geschichte.

«Zu Recht», sagt Jiddisch-Professorin Ruth Wisse, eine entschiedene Gegnerin in sich geschlossener Holocaust-Studien. Denn wenn man den Holocaust zum Studienfach erhebe, würde Hitler ganz allein Wahrnehmung und Geschichte der Juden definieren. «Das wäre ein fataler Fehlschluss», sagt Wisse. Jüdinnen und Juden blickten viel eher auf eine reiche Tradition. Dazu gehörten eine vielfältige Literatur, das jiddische Theater oder eine über 2000-jährige Geschichte zum Judentum. «Zeigt man Studierenden die Juden stets als perfekte Opfer», sagt Wisse, «provoziert das weitere Pogrome.»

Wer so argumentiere, vertrete eine veraltete Ansicht und verstehe nicht, was zeitgenössische Wissenschaft könne, sagt Professor Steven T. Katz. Der Holocaust sei nicht nur für die jüdische Geschichte, sondern für die Moderne im Allgemeinen zentral. «Wer die moderne Welt verstehen will», sagt Katz, «der muss den Holocaust verstehen.» Nie zuvor seien deren Wesenszüge geballter aufgetreten: Nationalismus, der Verlust religiöser Autorität, politische Ideologie, Rassentheorien sowie staatlich finanzierte Genozide.

Die Öffnung der russischen Archive biete neue Möglichkeitein, «den Holocaust gründlich zu erforschen». Es sei an der Zeit zu untersuchen, was etwa in Osteuropa geschah. Nirgendwo sonst wurden mehr Menschen umgebracht. Allzu lange, sagt Katz, habe die «oft mangelhafte Wissenschaft» auch die «immense Wirkung» des in ganz Europa verbreiteten Antisemitismus vernachlässigt.

Entdeckt wurde die Schoah in den USA reichlich spät. Noch 1968 mochte sich die «American Encyclopaedia» nicht mit dem Vernichtungslager in Auschwitz befassen. Das änderte sich erst 1975, mit dem Ende des Vietnamkriegs.

Amerika hatte in Südostasien eine «schwere moralische Niederlage» erlitten, sagt Hilberg. Nach diesem Desaster besann man sich auf den «guten Krieg»: den Zweiten Weltkrieg. In Hollywood entstand 1978 die TV-Serie «Holocaust», nach Hilberg der entscheidende Auslöser für den anhaltenden Holocaust-Boom. Ohne das Trauma in Vietnam, sagt Hilberg, hätte sich die Öffentlichkeit kaum mit Auschwitz auseinandergesetzt.

Denn auch in Deutschland begann der weit reichende Prozess des Erinnerns spät – wegen eines irregeleiteten Amerikaners. Erst nach dem Besuch von US-Präsident Ronald Reagan 1985 auf einem SS-Friedhof, sagt Hilberg, entdeckten die Deutschen den Holocaust so richtig. Verständlich könne das Unverständliche aber erst dann werden, «wenn man es akademisch untersucht».

«Die Juden waren die Opfer»

Der Politologe und Historiker Raul Hilberg, 72, wuchs in Wien auf. 1939 flüchteten er und seine Familie über Kuba in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Hilberg einer der ersten Wissenschaftler, die mit deutschen Originalquellen arbeiteten. Bereits 1961 veröffentlichte er in den USA sein epochales Standardwerk «Die Vernichtung der europäischen Juden». Heute lehrt Hilberg Politologie an der University of Vermont.

Professor Hilberg, welche historische Bedeutung hat der Holocaust?
Raul Hilberg: Eine einzigartige, die es unbedingt gesondert zu untersuchen gilt.

Dann befürworten Sie Holocaust-Studien an US-Universitäten?
Hilberg: Ja – wenn diese ein hohes akademisches Niveau erreichen, das heisst, wenn sie einem wissenschaftlichen, nicht einem politischen Zweck dienen.

Wer Holocaust-Studien gutheisst, überlasse die Definition der Jüdinnen und Juden Hitler, wird entgegnet.
Hilberg: Hitler bestimmt die heutige Wahrnehmung des Judentums. Er hat wie kein anderer die jüdische Geschichte verändert. Alles andere ist Nostalgie.

Es gibt eine reiche jüdische und jiddische Wissenschaft und Literatur.
Hilberg: Die meisten jiddischen Stimmen verstummten in den Gaskammern. Die Nostalgiker wollen jetzt etwas bewahren, dass es längst nicht mehr gibt.

Diese angeblichen Nostalgiker sagen aber: Junge Studierende erhielten sonst ein allzu einseitiges Bild der Juden.
Hilberg: Das sagen Professoren, die ihren Studierenden von osteuropäischen Dörfern erzählen, in denen im letzten Jahrhundert die Juden nur beteten. Das ist einseitig. Zudem: Der Holocaust gehört längst nicht mehr nur den Juden allein. Viele Studierende sollten sich intensiv damit befassen.

Holocaust-Studien, sagen deren Gegner, würden dazu führen, dass man das jüdische Volk nur als Opfer sehe.
Hilberg: Die Wahrheit muss brutal gesagt werden: Die Juden waren die Opfer.