«Multipler Orgasmus»

Die Sexualwissenschaftlerin Linda Williams lobt Bill Clinton als Befreier einer verklemmten Sexualmoral.

Von Peter Hossli

Linda Williams analysierte in den achtziger Jahren die Geschichte des pornografischen Films. Über die Darstellung weiblicher Lust schrieb sie ein Buch, «Hard Core», das heute als Klassiker gilt. Gleichzeitig spaltet das Buch die Feministinnen in Gegnerinnen und Befürworterinnen von Pornografie. Heute lehrt Linda Williams in Berkeley Filmwissenschaften.

Linda Williams, warum ist Amerika besessen von Bill Clintons Sexleben?
Linda Williams: Clinton ist der erste Präsident seit Kennedy, der wirklich sexy ist. Das ist der Grund.

Wo ist denn der amerikanische Puritanismus geblieben?
Williams: Den bilden wir uns nur ein. Ich würde in den USA eher von sexueller Adoleszenz sprechen: Wird Sex öffentlich, kichern wir und erröten.

Hat Clinton am Ende die USA sexuell befreit?
Williams: Befreiung ist ein zu starkes Wort. Er hat die Sexualität auf die Bühne gebracht. Lange Zeit lag sie im Verborgenen.

Warum wird erst jetzt über das aussereheliche Sexleben eines Präsidenten gesprochen? Abgesehen von Reagan hatte doch jeder eine Mätresse, von der die Öffentlichkeit wusste.
Williams: Clinton ist ein 68er, einer, der die Anliegen der Feministinnen unterstützte. Damit brach er alteingesessene Tabus. Dafür muss er jetzt büssen.

Bei wem?
Williams: Bei Leuten am rechten Rand. Die wollen ihn zerstören. Das Dumme ist: Clinton hat es lange nicht gemerkt. Er hätte die Katastrophe abwenden können. Stattdessen schlief er rum.

Die Entwicklung der Affäre erinnert an ein genau kalkuliertes Muster mit einem Höhepunkt: dem Sturz des Präsidenten.
Williams: Nein, hier gibt es unzählige Höhepunkte. Die Story geht weiter und weiter, sie ist ein multipler Orgasmus. Zum Sturz Clintons muss es deswegen nicht kommen.

Nehmen die Republikaner verspätete Rache für Nixons Sturz?
Williams: Ja, das haben sie nie verdaut.

Clinton liess durchblicken, über Sex zu lügen sei weniger schlimm als Watergate.
Williams: Da hat er natürlich Recht. Bei Watergate wurden veritable Verbrechen begangen. Gleichwohl muss Clinton mit solchen Vergleichen aufpassen. Sie legen seine Doppelmoral offen. Genauso, wenn er versucht, eine Grenze zwischen oralem Sex und «richtigem» Sex zu ziehen.

Woher kommt das?
Williams: Von der Moral der Südstaaten. Denkt man Clintons Aussage durch, kommt man zur katholischen Vorstellung: Sex ist nur dann Sex, wenn er mit dem Zeugungsakt endet.

Sind bei solchen Affären stets die Männer die Täter?
Williams: Nein. Nehmen wir Oralsex: Fellatio ist nach Ansicht vieler eine Herabsetzung der Frau. Sie muss in die Knie gehen, um den Penis zu liebkosen. Man kann sich aber auch mit der Fellatio-Geberin identifizieren. Die Frau hat die Kontrolle über den Penis und kostet die orale Lust aus.

Kann man den «Lewinsky»-Porno bald in der Videothek kaufen?
Williams: Davon bin ich überzeugt. Moderne Pornografie entnimmt ihre Ideen der Aktualität. Über oder mit Lewinsky wird es Dutzende von Pornos geben.