Gebrochener Glaube

Vor 85 Jahren sank der unsinkbare Ozeanriese. Seither ist die «Titanic» ein Mythos. Ein packender Film schickt das Schiff ein letztes Mal auf Reise.

Von Peter Hossli

Es dauerte Stunden, bis der kalte Tod endlich kam. Nachts, kurz nach 2.20 Uhr, trennte krachendes Getöse die Überlebenden auf offener See von den Sterbenden. 160 Minuten lang warteten 1503 Reisende, arme Schlucker und reiche Macher. Dann riss das Eiswasser den Bug des Schiffes in die Tiefe. Die Kapelle spielte ein letztes Lied. Einmal noch blickten die zurückgelassenen Passagiere den 19 Rettungsbooten nach. Die paddelten halb leer davon.

Am 14. April 1912 war die «R. M. S. Titanic», bis dahin grösster Ozeanliner, von der britischen Presse als «unsinkbar» beschriebene «Königin der Meere», auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York in einen Eisberg geprallt. Knapp vor Mitternacht schlug das gefrorene Wasser sechs fingerbreite, insgesamt aber über dreissig Meter lange Risse in das Vorderteil des Kahns. Pro Sekunde spritzten fortan fünf Tonnen Salzwasser in den 269 Meter langen Rumpf.

Zu viel für die «Titanic». Sie sackte ab.

Zusammen mit 95 Kilo Opium, 35 000 rohen Eiern, 40 Tonnen Kartoffeln, 2500 Flaschen Wein und 15 000 Flaschen Bier, 8000 Zigarren, Diamanten und Kandelabern sank das schwimmende Luxushotel, zerbrochen in drei Teile, fast vier Kilometer in die Tiefe. Der Fall dauerte zehn Minuten. Bis zu seiner Entdeckung, 73 Jahre später, schlummerte der Haufen Schrott als stählerner Sarg vor sich hin, angenagt von eisenhungrigen Bakterien.

Die Story des Jahrhunderts. Ab nächster Woche ist das Schrecknis vor der Südküste Neufundlands ein weiteres Mal auf Breitleinwand zu sehen. Dann gelangt James Camerons lange erwarteter, mit Abstand teuerster Spielfilm «Titanic» in 63 Schweizer Kinos. Ein ergreifendes Drama, das das ewig ruhende Wrack nochmals auf Reise schickt.

Wenige Stunden nach dem Unglück berichteten die Zeitungen bereits von den «letzten Stunden im Atlantik».

Seither ist die «Titanic» «Inbegriff der menschlichen Hybris, für technologische Vermessenheit und katastrophales Scheitern» («Der Spiegel»). Nichts versinnbildlicht den fehlgeschlagenen Glauben an ungebremsten Fortschritt und Machbarkeitswahn passender. Kein Unfall fasziniert die Menschheit mehr als der Untergang der «Titanic». Nicht die «Hindenburg», nicht Tschernobyl, schon gar nicht der Absturz eines Linienflugzeugs oder die am klaren Himmel Floridas wie eine Fackel glühende Raumfähre «Challenger».

Wohl, weil bis heute nicht klar ist, ob die letzten Gin Tonics in der Bar gratis ausgeschenkt wurden. Und sich Musikwissenschaftler noch immer streiten, welchen Song die Schiffskapelle beim Sinken wirklich spielte. Natürlich, weil der damals reichste Amerikaner – der Industrielle John Jacob Astor – zusammen mit Hunderten namenloser Auswanderern aus Europas Armenhäusern in die Tiefe ging. Weil zwischen Aufprall und Absturz fast drei Stunden verstrichen. Und weil 500 Sitzplätze in den Rettungsbooten leer blieben – Edward J. Smith, der Kapitän des havarierten Schiffs, versperrte den meisten Männern den Weg. Ganz britischer Gentleman, gehorchte Smith, damals erfahrenster und mit 12 000 Pfund Jahresgehalt höchstbezahlter Seemann, der edlen Bruterhaltungsorder; generös liess er Frauen und Kindern den Vorrang.

Längst ist die gesunkene «Titanic» ein einträglicher Mythos geworden, weltweit vermarktet in unzähligen Spiel- und Dokumentarfilmen, Romanen, Theaterstücken, historischen Büchern und seit neustem auch im Meer des Cyberspace.

Seit dem Wrackfund im Herbst 1985 durch den amerikanischen Marinegeologen und Abenteurer Robert Ballard verkaufen sich mit Spezialschiffen vom Meeresgrund geborgene «Titanic»-Reliquien bestens. Museen in Memphis, Tennessee, und Hamburg stellen 400 bzw. 600 Artefakte des Debakeldampfers multimedial aus. Am New-Yorker Broadway trällert ein Chor seit Januar 1997 erfolgreich im Musical zum Untergang. Und der Münchner Heyne Verlag gibt ein Kochbuch mit «Titanic»-Rezepten heraus – abgeschrieben von der Menükarte der ersten Klasse. Am letzten Abend gabs Austern, Filet Mignon und englisches Lamm an süsser Minzensauce.

Zwölf offizielle Titanic-Gesellschaften treffen sich rund um den Globus. Sie publizieren Newsletters und vergleichen die neusten Forschungsergebnisse. Selbst im Cybermeer verdrängt der Luxusliner riesige Datenmengen. Die Internet-Suchmaschine Hot Bot bringt beim Stichwort «Titanic» 54 255 Fundstellen hervor.

Jüngste Idee: Ein US-Versand- haus verkaufte just auf Weihnachten originalgetreue Imitationen von «Titanic»-Uniformen oder hölzernen Ruderbooten.

Das ultimative «Titanic»-Werk aber, das kommt jetzt – in die Kinos: «Titanic», ein bombastischer Hollywood-Film, inszeniert vom kanadischen «Terminator»-Regisseur James Cameron, 43. Ein Filmer, der in seinen Werken gigantische Maschinen stets minuziös aufbaut, nur, um sie dann mit noch grösserem Aufwand wieder zu zerstören.

Mit 285 Millionen Dollar Produktionskosten und einem Marketingbudget von gegen 150 Millionen Dollar ist «Titanic», das tragische Epos über die epische Tragödie, der teuerste Film aller Zeiten.

Endlich ein Film, der einen Vergleich mit David O. Selznicks Südstaatendrama «Gone with the Wind» standhält, jubelte die «New York Times» auf ihrer Titelseite.

Ein Katastrophenfilm im wahrsten Sinne, auf und neben der Leinwand: Unrühmlich die Vorgeschichte, höchst ungewiss der Ausgang. Mythen, Grössenwahn, Inkompetenz und nur ein bisschen Hoffnung auf ein Happyend – wie einst bei der realen «Titanic» nach dem Crash.

Was der Untergang des Megakahns für die transatlantische Schifffahrt war, könnte Camerons Überfilm für die Unterhaltungsindustrie werden. Das grösste anzunehmende Debakel. Ein drei Stunden und siebzehn Minuten dauerndes Monumentalwerk, das dessen Regisseur die Karriere kosten, den beiden verantwortlichen Studios den Untergang bescheren und, so hoffen in Hollywood nicht wenige, endlich das Ende der ungebremsten Kostenspirale bringen könnte.

«Ein Wahnsinn» sei «Titanic», schrieb «Rolling Stone», zugleich der «beste und schlechteste Film des Jahres». Von den Kritikern heiss geliebt, von den Entertainment-Buchhaltern sehr gefürchtet.

Wahnsinnig die Kosten. 660 Millionen Dollar müsste der Film an den Kinokassen einspielen, um den ersten Dollar Gewinn abzuwerfen. Kein leichtes Unterfangen. Wegen der Überlänge sind nur eine Abendvorstellung, höchstens drei Vorführungen pro Tag möglich. Keine Stars spielen in den Hauptrollen. Negative Presse während der Dreharbeiten nährte imageschädigend die Gerüchteküche.

Floppt «Titanic», ist in Hollywood vorerst Schluss mit Gigantismus. Starsaläre, horrend teure Spezialeffekte und aus der Kontrolle geratene Marketingkosten haben in den vergangenen fünf Jahren das Filmgewerbe aufgebläht. Die Blase ist zum Bersten voll. Nur was noch grösser und noch teurer ist, hat einen Wert. Durchschnittlich 80 Millionen Dollar verschlingt ein Film. Nochmals so viel geben Verleiher für die Vermarktung aus.

Regisseur Cameron kümmerte das nicht. Sein Film sollte aufwändiger als alles zuvor werden. Ein Jahrhundertwerk, kolossale Gefühle und Spektakel. Noch einmal erlebbar wollte der Detailfanatiker jene gewaltige Katastrophe machen, die so viel Menschliches erzählt. Filmen, wie 712 Schiffbrüchige in den rettenden Booten den im eiskalten Wasser Schwimmenden die Hilfe verweigerten. Sein Credo: den historischen Fakten so «gewissenhaft wie nur möglich» folgen.

Im mexikanischen Küstenstädtchen Rosarito liess Cameron aus dem Nichts ein Studio stampfen, eine längst vergangene Realität aus Kunststoff, Glas und Holz für die Gegenwart auferstehen. Aus Stahl und Zement baute ein Konsortium internationaler Baufirmen eine 90-Prozent-Replika des titanischen Ozeaners. In den grössten Swimmingpool der Welt setzten sie das 500 Tonnen schwere, um 90 Grad drehbare Riesenmodell. Ein Meer neben dem Meer, das auf drei Hektar Fläche 68 Millionen Liter Wasser fasst.

Jedes Detail stimmt. Bei derselben Firma, die vor 86 Jahren im Innern der «Titanic» Teppiche verlegte, orderte Cameron 6000 Quadratmeter Stoff desselben Bodenabdeckers. Pingelig genau liess er Schilder, Uniformen und Gläser nach alten Plänen reproduzieren. Stühle und Bänke, Treppen und selbst das Steuerrad auf der Brücke fertigten Tischler mit demselben Holz, das schon bei der «Titanic» zur Anwendung kam.

Fehler duldete Cameron, bei «Titanic» zugleich Regisseur, Autor, Produzent und Schnittmeister, keine. Er las jedes «Titanic»-Buch, das historischen Ansprüchen genügte. Danach suchte er bereits gedrehte «Titanic»-Filme nach Ungenauigkeiten ab. Beim eigenen Film warf er Spezialeffekte mit Bildern des sinkenden Kahns weg. Grund: Die Schiffsschrauben drehten sich am oberen Bildrand. «Jeder «Titanic»-Kenner weiss, dass die Motoren nach dem Zusammenprall sofort abgeschaltet wurden», sagt Cameron. Digital fabrizieren liess er 1000 Statisten, dazu Vögel, Delfine, den Himmel am Tag, die Sterne in der Nacht nach damaliger Konstellation, und die letzte Rauchfahne, die der Dampfer röchelte.

Entstanden ist eine fast perfekte Nachbildung der Wirklichkeit, das Werk eines Besessenen. Wer «Titanic» gesehen hat, ist 1912 tatsächlich dabei gewesen.

«Ein Sadist, ein Scheusal» sei Cameron, beschwerten sich noch während der Dreharbeiten Statisten wie Stars. Einer, der beim Filmen im Stile eines beserkerhaften Generals rücksichtslos Krieg führe. Ein Unbeugsamer, der 1995 ein russisches Tauchboot charterte, um in 3812 Meter Tiefe die schlummernden Überreste der «Titanic» zu filmen. Zwölf Mal war er unten. «Nachdem ich sie da so ruhig schlummern gesehen hatte», sagt Cameron, «musste ich einen absolut detailgetreuen Film drehen – aus Respekt vor den Toten.»

Wenig Respekt zollte er den Lebenden. 18 Stunden am Tag liess er seine Crew schuften, wie in Schwitzbuden. Mexikanischen Arbeitern zahlte er Hungerlöhne. Stundenlang mussten die Statisten im eiskalten Wasser ausharren. Viele erlitten schwere Erkältungen und verliessen den Dreh vorzeitig. Stuntmänner verletzten sich bei gefährlichen und angeblich unsicher durchgeführten Hochseilakten.

Die Schinderei hatte Folgen. Gebratener Fisch, gepanscht mit Holzschutzmittel, setzte im September 1996 Techniker und Schauspieler während Tagen ausser Gefecht. Hinter dem Zwischenfall vermuteten amerikanische Zeitungen einen Mordanschlag auf Cameron, verübt von rachsüchtigen Crewmitgliedern. Eine Untersuchung des FBI ist noch im Gang. Fortan überwachten mexikanische Mafiosi das Set – und bezogen stattliche Schutzgelder.

Hauptdarstellerin Kate Winslet brach nach Drehschluss alle Kontakte zu Regisseur Cameron ab. In einem Interview mit der «Los Angeles Time» sagte sie, sie werde nie mehr mit Cameron drehen. Er sei «unerträglich, ein Egomane».

Zwei Wochen nach Drehbeginn brannte der Kameramann durch. Er hielt den Druck nicht aus. Die Arbeit war ihm zu strapaziös, das Ende nicht absehbar.

Statt wie geplant 138 drehte Cameron 160 Tage – bei stündlichen Kosten von 45 000 Dollar der Hauptgrund für die Explosion des Budgets von 120 Millionen auf knapp unter 300 Millionen Dollar.

20th Century Fox, das traditionsreiche Hollywood-Studio des australischen Medienmoguls Rupert Murdoch, packte die Angst. Negative Meldungen jagten sich. Hollywoods Tratschmäuler freuten sich aufs Schlimmste. Viele wünschten Einzelgänger Cameron den Untergang. «Totales Chaos» präge das Set, Cameron habe die «Kontrolle verloren», berichtete das US-Magazin «Time» im September 1996, zwei Monate nach Drehbeginn. Von «unkontrollierbarem Gigantismus» schrieb das Branchenblatt «Variety». Ein kommerzielles Desaster zeichnete sich ab.

Fox zog die Notbremse. Das Studio suchte nach einem Partner. Für verhältnismässig bescheidene 65 Millionen verkaufte es die US-Verleihrechte an Konkurrent Paramount. Zusammen trieben sie die Fertigstellung voran. Cameron verzichtete auf sein Regie-Honorar.

Emsig, sieben Tage die Woche, 16 Stunden am Tag, wurde an der Endfassung montiert. Nur einen Freitag gabs: den 2. Juli – den Tag, als «Titanic» in den US-Kinos anlaufen sollte. «Heute gehen wir ins Kino», sagte Cameron lakonisch. In der Stadt hingen Werbeplakate für einen Film, den niemand zeigen konnte.

Die Vermarkter sahen den lukrativen Starttermin im Sommer und damit viele Millionen Dollar davonschwimmen. Im Frühherbst, als endlich eine vertonte Kopie vorlag, hielt die Kinosaison inne. Ferienende und Schulbeginn.

Nun wurde die Strategie geändert. Weltpremiere feierte man in sicheren Gewässern, weitab von Hollywood. In Japan, wo Cameron seit seinem Unterwasserdrama «The Abyss» kultisch verehrt wird, lief «Titanic» im November vom Stapel. Kreischende Teenager jubelten am Filmfestival von Tokio Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio zu, auch er ein Star in Japan. Ausgewählte US-Journalisten liess man kurzerhand einfliegen.

Marketing, das vor Selbstvertrauen strotzt. «Titanic» tauchte plötzlich auf. Eines war nun klar: Cameron hatte einen denkwürdigen Film abgeliefert. Für Hollywood Grund genug, ihm zu verzeihen. Als dann «Variety», der Seismograf der Unterhaltungsindustrie, Camerons Film von Tokio aus hochjubelte, war man sich sicher: «Titanic» ist unsinkbar.

Der Film erzählt eine Liebesgeschichte, Romeo und Julia auf dem Schiffe. Eine reiche, im Oberdeck reisende Amerikanerin trifft einen jungen Künstler. Der gewann sein Dritte-Klasse-Ticket beim Jassen. Sie verlieben sich und überwinden alle Gegensätze. Wie jede grosse Liebesgeschichte endet auch diese Beziehung tragisch. Ein Bad schäumender Gefühle vor dem Big Bang. Regisseur Cameron schuf «Doktor Schiwago» auf dem Vorderdeck, die «Love Story» der neunziger Jahre. An Stelle der leninistischen Revolution ist die «Titanic» historischer Hintergrund einer schwelgerischen Romanze. Erst der Kuss mit dem Eisberg bringt Action auf die Leinwand, jedoch nie auf Kosten der Gefühle.

In den USA sahen Meinungsmacher den Film lange vor dem Kinostart am 19. Dezember. Leise Mundpropaganda drehte die Stimmung bei Kinobesitzern und Journalisten nach steuerbord, um 180 Grad. Plötzlich war «Titanic» das Ereignis des Jahrzehnts, der sichere Wert bei der Oscar-Verleihung. Ein Kassenknüller.

Inzwischen zweifelt niemand mehr an einer Triumphfahrt. «Titanic» war in den USA der erfolgreichste Weihnachtsfilm.

Das Monumentalwerk kommt zur richtigen Zeit, zwei Jahre vor dem Millenium, dem gefürchteten wie herbeigesehnten Wechsel ins dritte Jahrtausend. Die «Titanic» ist das perfekte Synonym des 20. Jahrhunderts, eine Metapher des Scheiterns und des männlichen Grössenwahns. Eine riesige Kastration. Ein Unglück, das etwas Genügsamkeit und Besonnenheit hätten verhindern können.

Auf dem Unglücksdampfer, diesem menschlichen Mikrokosmos, trafen sich Zyniker und Realisten, Besserwisser und Unfähige, Unbeugsame und Feiglinge. Heroentum und Hysterie standen sich genauso im Wege wie Helfer und Halunken, Gauner und Gentlemen. Apokalyptisch endete, wer keinen Platz im Boot fand. Tief im kollektiven Unbewussten stecken die von Todesfurcht geprägten Schreie der Untergehenden. Gehört wurden sie noch während Stunden von Geretteten in ihren erbärmlichen Booten.

Wenig fasziniert mehr als die endlose Wartezeit zwischen Aufprall und Sinken. Eine Frage stellen sich alle: Wie hätte ich mich verhalten? «Every man for himself», wie Kapitän Smith’ letzte Befehlsausgabe lautete – oder doch nobel dem Nächsten den Vorzug lassen? Held oder Hasenfuss? Eine Grenzsituation, die jeden beschäftigt, eine einzigartige «Menschheitsfabel», wie «Der Spiegel» das Desaster beschreibt.

Auf jeden Fall die beste Geschichte, die sich Hollywood vorstellen kann. Nämlich menschliches Drama in vollendeter Form. Ein Kapitän, der ohne Fernglas und Scheinwerfer an Bord ins Eismeer fährt – nur um ein paar Stunden früher in New York einzulaufen; ein Wettrennen mit dem Tod. Passagiere der dritten Klasse, die nicht einmal geweckt wurden und deshalb schlafend in den Tod sackten. Ein menschliches Tribunal darüber, wer ins Rettungsboot steigen darf und wer bleiben muss. Paare auf Hochzeitsreise, die gemeinsam in den Tod wollten. 4000 Dollar Bargeld, die im Anzug der russgeschwärzten Leiche des im Meer treibenden Milliardärs Astor gefunden wurden.

Jeder Generation diente das titanische Unglück vor Neufundland als Metapher.

Kaum war die «Titanic» abgesoffen, erschienen in den USA Artikel gegen die Gleichberechtigung der Frauen. Ganz nach dem Motto «Gleiche Rechte, gleiche Pflichten». Der Vorzug bei den Rettungsbooten beweise die Ungleichheit der Geschlechter, sagten die Frauengegner. «Das Dasaster nützte vor allem den Gegnern des Frauenstimmrechts», sagt Steven Biel, Professor für American Studies an der Brandeis University in Massachusetts. In seinem Buch «A Cultural History of the Titanic Disaster» untersucht er den historischen Symbolwert der «Titanic».

Als ehrenhaft galt 1912 etwa das Verhalten der Oberschicht. Diese verhinderte das Überleben vieler Brotloser – um reiche Ladys in Sicherheit zu wissen, versperrten sie den Habenichtsen den Weg. Eine Tat für das Gemeinwohl, lautete damals der Tenor. Die Starken sollten überleben, die Schwachen besser nicht.

Eine Strafe des Herrn sei die tragische Havarie gewesen, geisselten hingegen die Gottesfürchtigen. Luxus und Verschwendungssucht besiegelten den Untergang. Die «Titanic», ein Goldenes Kalb, um das jeder tanzte. Türkische Bäder, zum Dinner Wachteleier und Trüffelsalat, Louis-seize-Stühle und Palmengärten für die Erste-Klasse-Passagiere – der überbordende Konsumrausch war in den Augen protestantischer Asketen einziger wahrer Grund für das Scheitern der Überfahrt.

Nazi-Propagandist Joseph Goebbels schaffte es gar, die Arier auf der «Titanic» hochleben zu lassen. Stahlblaue Augen, blondes Haar, breite Schultern und germanische Abstammung zeichneten den britischen Offizier mit Namen Petersen aus, der im deutschen Propagandafilm «Titanic» aus dem Jahre 1943 heroisch Menschen rettet. Für Volk, Vaterland und Führer steigt er, ganz Blut-und-Boden-Ideologie, zum Schluss ins kalte Wasser.

Für übertriebene Selbstsicherheit und Technikwahn stand das Meeres-Malheur dann in den Fünfzigern, der kritiklosen Jubeljahre nach dem Krieg. Verfechtern einer atomfreien Zukunft diente die Titanic als Vorbote der Apokalypse.

Die 68er verteufelten mit der «Titanic» den zeitgenössischen Sozialdarwinismus. Der Zustand der Welt sei wie einst auf hoher See: «Rette sich, wer kann.»

Liebe in Zeiten des Untergangs

Der monumentale Film «Titanic» ist modernes Kino der alten Sorte.

Längst abgeblättert sei Hollywoods Glanz jener gloriosen Tage, als das Kino noch von schierer Grösse lebte. Tröge Buchhalter würden nun die Filme machen, meckern Pessimisten seit Jahren. James Cameron, Regisseur aus Kanada, liefert endlich den Gegenbeweis.

Sein extravagantes Untergangsdrama «Titanic» ist modernstes Kino der alten Sorte: Eine mit viel Drive erzählte Geschichte, die von Gegensätzen lebt, Arm auf Reich, Ehre auf Gewinnsucht und Mut auf Feigheit prallen lässt; ein herzergreifendes Liebespaar, deren Leiden und Leidenschaft man lange nicht vergisst; die hervorragend spielenden Kate Winslet und Leonardo DiCaprio als umwerfendes Paar; perfekte Bauten und Spezialeffekte, die nur dazu da sind, die Story plausibler und eindringlicher zu machen.

Ein Film, der einen Vergleich mit «Gone with the Wind» oder «Lawrence of Arabia» nicht zu scheuen braucht.

Cameron, der inszeniert und das Drehbuch geschrieben hat, erzählt aus der Perspektive einer 101-jährigen Frau, die das Unglück vom 15. April 1912 überlebte: Rose DeWitt Bukater, eine verwöhnte amerikanische Göre, fährt auf dem Luxusliner Titanic nach New York. Sie reist mit Mutter und Fiancé, einem blasierten Stahlbaron. Auf Deck trifft Rose das pure Gegenteil ihres luxuriösen, aber kümmerlichen Daseins: Jack Dawson. Der schlägt sich als fescher Zeichner durch, lebt und träumt von Tag zu Tag. Zwischen den beiden entfacht eine heftige, aber verbotene Liebe. Sie dauert ein paar Tage. Dann, nach 100 von 197 Filmminuten, prallt die «Titanic» auf den Eisberg. Das Schiff sinkt.

Grandios flechtet Cameron die Lovestory vor, während und nach dem Untergang in eine detaillierte historische Schilderung der Abläufe. Beiläufig führt er durch die Kammern, Räume und riesigen Hallen des Schiffes: die Kirche, den Trimmdichraum, die reich geschmückten Salons, das Unterdeck mit den brotlosen Auswanderern aus Irland, Kroatien oder Italien und den gewaltigen Maschinenraum, wo nach dem Aufprall zuerst die Ratten und dann die Heizer ersaufen.

Berührende Wirklichkeit erzeugt Cameron mit einem Kniff schon zu Beginn des Films: mit spektakulären Bildern des realen Wracks, aufgenommen 3812 Meter unter der Meeresoberfläche. Seit 85 Jahren schlummern dort die Geister der «Titanic». Nach dem dokumentarischen Tauchgang taucht das Desasterschiff in alter Frische wieder auf.

Was besonders überrascht und erfreut: Regisseur Cameron, ansonsten eher bekannt für humorlose Materialschlachten wie «Terminator 2» oder «Aliens», gibt sich für einmal schalkhaft. Genüsslich scherzt er etwa übers verklemmte Sexleben der Amerikaner. Das, weiss das Kinopublikum, findet oft nur auf ledernen Rücksitzen von Autos statt, meist schnell und ziemlich unromantisch. Rose und Jack sind zwar das romantischste Kinopaar seit Jahren. Sex haben die beiden in «Titanic» trotzdem auf dem Rücksitz eines funkelnden Autos. Das steht im Frachtraum.