Ecken und Kanten gegen die Plüschtiere

Er gilt als bösartiger Karikaturist. Und doch durfte er liebevoll den neusten Disney-Film "Hercules" illustrieren. Gerald Scarfe brachte dem Mickey-Mouse-Haus seine Kantigkeit zurück.

Von Peter Hossli

Die Beine gespreizt, die Hose unten, kackt US-Präsident Lyndon B. Johnson ovale Bomben auf Vietnam. Hunderttausend Würmer zerfressen den Bauch des klapprigen Gauls der Queen. Oder: Margaret Thatcher tropft breiiges Gummi aus dem offenen, ansonsten hohlen Kleinhirn. Bissiger als der Brite Gerald Scarfe karikiert keiner.

Mit dynamischen und schroffen Strichen beobachtet und entblösst der 61-jährige Brite die Mächtigen und Machtlüsternen. Seit den sechziger Jahren, als er dem englischen Satiremagazin “Punch” erste Zeichnungen verkaufte, gilt er als kompromissloser Künstler. “Hieronymus Bosch unter den Karikaturisten”, nannte ihn die britsiche Tageszeitung “Guardian”. Wöchentlich karikiert Scarfe, dessen Name Narbe bedeutet, heute in der “Sunday Times”.

Jetzt hockt er im biederen, blaugrau karierten Wollhemd in Athen und bewirbt den neusten Animationsfilm des Unterhaltungsgiganten Walt Disney Corporation, “Hercules”, der nächste Woche in die Schweizer Kinos gelangt. Für den 35. abendfüllenden Trickfilm des Mickey-Mouse-Konzerns lieferte Scarfe die grafischen Inspirationen. Radikale Kunst im Dienste maximaler Gewinnoptimierung.

“Nein”, sagt der höfliche, in Cockney-Englisch antwortende Mann, ein Widerspruch sei das “überhaupt nicht”. Dass ein einst radikaler 68er jetzt für einen global agierenden Multi wie Disney arbeitet, störe ihn nicht. “Für mich ist alles eine Herausforderung”, sagt Scarfe, wohl wissend, wie Hollywood und speziell Disney funktionieren: Spricht man mit der Presse, sind kritische Bemerkungen nicht angebracht, man hat artig zu sein – selbst ein Scarfe, der dank gezeichneter Unartigkeiten mehrfacher Millionär wurde.

Es kümmere ihn nicht, ob er nun Kostüme für eine Oper, Plattencovers für eine Rock-‘n’-Roll-Formation oder das Titelblatt des US-Magazins “Time” entwerfe. “Hauptsache, ich kann mit meinen Strichen und Linien etwas bewirken.”

Bei Disney verursachte Scarfe ein Erdbeben mittlerer Stärke. Der Brite – der erste Trickfilm-Designer, der nicht auf der Lohnliste des Disney-Konzerns stand – verlieh der in den vergangenen Jahren matt und blass gewordenen Disney-Animation neue Dynamik. “Scarfismus”, wie man in Burbank, dem Disney-Hauptquartier, den Zeichenstil von “Hercules” mit einigem Stolz beschreibt.

Nicht mehr runde Formen, sondern Ecken und Kanten, weniger Plüsch und niedliche Tierchen, mehr Sarkasmus, etwas Gewalt, Feuer speiende Monster. Gar Anlehnungen an krude japanische Animationstechniken brachte Scarfe in der märchenhaften Mythologieverfilmung “Hercules” unter.

Mit unterschiedlichem Erfolg. “Disney is back”, schrieb etwa die “New York Times” und lobte Scarfes expressionistischen Stil. Von “grosser Vitalität” schwärmte das amerikanische Branchenblatt “Variety”. Schon lange nicht mehr erhielt ein Trickfilm bessere Kritiken.

Der kommerzielle Erfolg aber hielt sich in Grenzen, das Kinopublikum reagierte verhalten. Nicht einmal 100 Millionen Dollar spielte “Hercules” in den USA ein. Für Disney, seit Erfolgen mit “The Lion King” an Umsätze um die 300 Millionen gewöhnt, ein enttäuschendes Ergebnis. Kleinen Kindern, dem Zielpublikum, erschien der Film zu avantgardistisch und zu Furcht erregend. An üppigem Sex und eskalierender Gewalt, in der griechischen Mythologie Standard, mangelte es Erwachsenen. “Wir mussten die Mythologie disneyisieren”, sagt “Hercules”-Autor und -Regisseur John Musker. Will heissen: No sex. No crime.

Designer Gerald Scarfe kümmern die fehlenden Millionen wenig. “97 Millionen Dollar? Das ist doch eine wahnsinnige Summe.” Zudem habe Geld für ihn keine Bedeutung. Er sei ein Künstler, der bei Disney alle möglichen Freiheiten genossen habe.

Seine rohen Skizzen und detailreichen Reinzeichnungen von Herkules, dem unbesiegbaren und muskulösen Edelhelden der griechischen Mythologie, dessen Göttervater Zeus oder einem tausendköpfigen Ungeheuer waren Anregung für die rund 800 Trickfilmer, die drei Jahre lang an “Hercules” zeichneten.

Während drei Tagen weilte Scarfe Anfang Oktober in Athen, dem vormaligen Zentrum des klassischen Griechenland. Von rund 110 europäischen Journalisten liess er sich befragen.

Achtergruppen und Einzelinterviewern erzählt Scarfe, warum er nicht weich und rund, sondern hart und kantig zeichnet. “In erster Linie ist es wie eine Unterschrift, die kann man nicht ändern. Meine Striche sind halt so”, sagt Scarfe.

Dann spricht er von seiner Krankheit. Als Kind war er Asthmatiker, lebte ohne Freunde, von der Aussenwelt abgeschnitten. Autoritären Ärzten, lieblosen Krankenschwestern und gemeinen Heimleitern, die ihn von der Familie trennten, fühlte er sich wehrlos ausgeliefert. Abgrundtiefen Hass entwickelte er gegen Menschen, die Macht über ihn ausübten. Später zeichnete er bissige Karikaturen über Diktatoren, Premierministerinnen und Unternehmer, wegen denen Tausende auf dem Arbeitsamt landeten.

“Ein Aufschrei gegen alles, was ich verabscheue. Um meine Abscheu zu zeigen, muss ich unangenehm zeichnen”, begründet er den Stil in seiner vor zehn Jahren erschienenen Autobiografie. “Vielleicht ist das aber nur simple Amateurpsychologie”, sagt er heute.

Scarfe, der eher an einen zurückgezogen lebenden Hobbygolfer denn an einen Künstler erinnert, sucht die Einsamkeit. Er lebt im Londoner Stadtteil Chelsea, unweit des Fussballstadions des lokalen Traditionsklubs. Im Atelier sind die Wände weiss. Kein Bild, keine Inspiration durch andere Werke, “nichts, das meine Arbeit beeinflussen könnte”.

Die Verbindung zur Aussenwelt stellt das Faxgerät sicher. “Bestimmt 1000 vollgezeichnete Seiten”, sagt Scarfe, habe er ins Disney-Hauptquartier nach Burbank gefaxt, bevor es zu einem persönlichen Treffen mit den beiden Regisseuren kam.

Zu Disney kam Scarfe, der sich als Kind angeblich “auf jeden neuen Disneyfilm freute”, vor vier Jahren. Per Post erhielt er das Drehbuch zu “Hercules”, abgeschickt von den beiden Regisseuren John Musker und Ron Clements. Sie erkundigten sich, ob er nicht ein paar Entwürfe machen könne. Scarfe ging ins Britische Museum, wo unzählige Sammelstücke antiker griechischer Kunst lagern, las Mythologie, Platon und Aristoteles. Dann begann er zu zeichnen.

Zuerst faxte er 30 Skizzen nach Burbank, Charakterstudien von Hercules und Hades, dem Bösewicht des Films, und von Pegasus, dem weissen Pferd mit den federnen Flügeln. “Ich dachte, damit hat es sich.” Dem war nicht so. Das Regieduo verlangte mehr. Scarfe lieferte.

Detailliert fertigte er nun fast alle Figuren. Ein Jahr später wies er mehrere hundert Trickfilmer an, die den starren und flachen Bildern Bewegung und Körperlichkeit verliehen. Jeweils 10 bis 20 Leute pro Figur. “Mit jedem Tag”, sagt er, “liessen die mich mehr gewähren.” Er ist überrascht, wie viele von den ursprünglichen Ideen im fertigen Film blieben.

Die “Hercules”-Figuren zieren Pappbecher bei McDonald’s, kämpfen digitalisiert in CD-ROM-Spielen oder treiben weltweit Tränen in Kinderaugen. Sie setzen Millionen um

Globale, genau geplante Unterhaltung, die mit Kunst rein gar nichts mehr zu tun hat. “Was es bedeutet, für Disney zu arbeiten, wurde mir erst bewusst, als ich in Hongkong und Taiwan auf Promotionstour war”, sagt Scarfe. “Hercules” und Scarfe waren überall.

Gestört hat es ihn nicht. Wenn er der “Sunday Times” Karikaturen verkaufe, arbeite er doch für dessen Besitzer Rupert Murdoch, mit seiner Firma News Corporation weltweit die Nummer vier unter den Informationsindustrie-Managern. Überhaupt schwimme er lieber mitten im Fluss, als am Ufer zu stehen und zuzuschauen, wie alles an ihm vorbeigleite.

Würde er nochmals für Disney arbeiten? “Bestimmt”, sagt Scarfe, “aber nur, wenn ich von Beginn weg die totale Kontrolle habe.”

Jahrelang pendelte Scarfe zwischen gut bezahltem Mainstream und künstlerisch fordernder, aber brotloser Avantgarde. In den sechziger Jahren wirkte er für das Satiremagazin “Punch”. Gleichzeitig entwarf er Titelblätter für “Time”, damals das weltweit renommierteste Nachrichtenmagazin. Später karikierte er regelmässig für “The Sunday Times”, den “New Yorker” und die italienische Ausgabe von “Vogue”. Kostümentwürfe und Bühnenbauten für Opern- und Theateraufführungen brachten ihm kaum Geld, dafür viel Arbeit.

Für den britischen Fernsehsender BBC realisierte Scarfe 1972 einen zwanzig Minuten dauernden Trickfilm, gänzlich ohne Kamera. Jedes der rund 28 000 Einzelbilder eines 70-mm-Filmbandes bemalte er eigenhändig mit Ikonen der amerikanischen Populärkultur: Coca-Cola, Frank Sinatra, John Wayne, LSD, Anti-Vietnam-Bewegung, “Easy Rider”.

Sehen kann man dieses “Porträt von Los Angeles während der Hippie-Ära”, wie Scarfe seinen Film beschreibt, nicht mehr – aus rechtlichen Gründen. Ohne zu Fragen und ohne dafür Abgeltung zu bezahlen verwendete Scarfe Musik von Janis Joplin, den Stones oder Bob Dylan.

Umstrittene Populärkultur schuf er 1982 mit der Trickfilmsequenz zu “The Wall”, Alan Parkers filmisches Pink-Floyd-Denkmal. “Faschistoid” seien Scarfes Szenen ausgefallen, schrieb damals der “SonntagsBlick”. Mit Nazifilmerin Leni Riefenstahl und den von ihr gefilmten Aufmärschen strammer SS-Truppen am Reichsparteitag in Nürnberg verglich das welsche Magazin “L’Hebdo” die scarfeschen Trickfilmszenen. Heute mag der Zeichner nicht mehr darüber sprechen und wechselt das Thema.

Politiker möge er nicht. “Sie sind langweilig, egozentrisch, arrogant. Und sie glauben, auf alles eine Antwort zu haben.” Froh, dass John Major nicht mehr britischer Premierminister ist, sei er schon. Ein “ausgesprochen netter Mensch, der Tory-Politiker”, – für Karikaturisten ein Alptraum. Und Tony Blair? “Noch ist er in den Flitterwochen, Fehler wird aber auch Tony Blair bald machen”, prophezeit Scarfe. “Fehler machen alle.”

Zu seinen Lieblingen zählt er Richard Nixon und Margaret Thatcher. Den vormaligen US-Präsidenten wegen der schrulligen Körperhaltung, die 1990 abgesetzte britische Premierministerin, weil sie “so wunderbar bösartig” gewesen sei.

Selber habe er keine politische Position. “Wenn überhaupt, dann stehe ich eher links”, sagt Scarfe, der sich als eine Art oppositioneller Politiker sieht, aber niemals ein politisches Amt bekleiden würde. “Mit Karikaturen bissig kritisieren liegt mir mehr.” �