Ein unabhängiger Geschichtenerzähler

Für Hollywood rettet er Drehbücher, als Regisseur aber arbeitet er fernab der Traumfabrik: John Sayles, dessen Film «Lone Star» jetzt ins Kino kommt.

Von Peter Hossli

Leichen sprechen oft Bände. Inmitten der texanische Steppe, nahe der mexikanischen Grenze, finden zwei US-Soldaten ein verblichenes Skelett. Neben dem gräulichen Schädel schimmert ein blecherner Stern in der Mittagssonne. Die Leiche, ist der örtliche Sheriff noch vor der gründlichen Obduktion überzeugt, ist Charlie Wade, der vormalige Gesetzeshüter von Frontera, Texas. Vor über vierzig Jahren verschwand der oft unzimperlich agierende Wade unter ungeklärten Umständen. Seither schlummert Frontera vor sich hin.

Bis zum Leichenfund. Sam Deeds ist nun Sheriff. Er rückt das zur Legende gewordene Verbrechen von der Vergangenheit in die Gegenwart. In der schläfrigen Stadt zerbrechen Geheimnisse und Lügen an den brüchigen Überresten des schon lange toten Sheriffs.

Erzählt wird dies in «Lone Star», dem neunten und bis anhin erfolgreichsten Film von John Sayles. Der ist unabhängiger Regisseur und Romanautor – und als Drehbuchdoktor rettet er gegen Bezahlung misslungene Hollywood-Scripts.

Gelöst sitzt Sayles, 46, in einem hölzernen Stuhl an der Croisette von Cannes. Im Rahmen des grössten kommerziellen Filmfestivals gibt einer der wenigen wirklich unabhängigen US-Filmer Auskunft. Jede Antwort wirkt besonnen. Sayles spricht schnell und konzentriert. Seine Stimme tönt weich. Beim Sprechen gestikuliert er mit seinen muskulösen Armen. Er trägt ein verwaschenes Jeanshemd, Bluejeans und ausgetragene Lederstiefel. Eine Art Westernfigur.

Mit Mythen des Westerns spielt Sayles auch in «Lone Star», angesiedelt am Rio Grande, dem Grenzfluss zwischen den USA und Mexiko. Hier lässt er Gesetzeshüter Deeds den Mord am rassistischen und brutalen Sheriff Charlie Wade entschlüsseln, den Country-Legende Kris Kristofferson mit Bravour verkörpert.

Der ungelöste Kriminalfall ist Ausgangspunkt eines komplexen, im Stile eines epischen Romans hervorragend erzählten und bebilderten Films, der mit Rückblenden Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenfügt. Anstelle einer Hauptfigur folgt Sayles rund einem Dutzend eng verbundener Personen. Zum Thema macht er die texanische Geschichte, das multikulturelle Amerika oder die Geschwisterliebe. Zu Recht bezeichnete die «New York Times» den nun in Schweizer Kinos laufenden Film als Höhepunkt in Sayles’ Karriere. Die NZZ nannte Sayles «einen der bemerkenswertesten Filmemacher der USA». Und die Jury der FACTS-Kino-Top-ten hievte «Lone Star» diesen Monat auf Platz eins.

Das Werk von John Sayles ist imposant. Soeben hat er in Mexiko seinen zehnten unabhängig produzierten Spielfilm abgedreht. Bei all seinen Filmen schrieb er die Vorlage und besorgte den Schnitt. Für andere Regisseure verfasste Sayles elf Drehbücher für Kino- und drei für Fernsehfilme. Insgesamt veröffentlichte er drei Romane, eine Kurzgeschichtensammlung sowie ein Sachbuch über das Verhältnis zwischen Latinos und weissen Amerikanern, «mí pasión», wie Sayles in korrektem Schulspanisch sagt. Zu drei Liedern von Bruce Springsteen inszenierte er die Promotionsvideos.

Den grössten Teil seines Einkommens verdient Sayles allerdings in Hollywood. Dort verdingt sich der in New Jersey lebende New Yorker als Drehbuchdoktor. Gegen Gagen in Millionenhöhe behob er dramaturgische Unebenheiten bei aufwendigen Studioproduktionen wie dem Weltalldrama «Apollo 13» oder dem Spätwestern «The Quick and the Dead». Sein Name erschien in keinem der Abspänne. «Das ist eine anonyme, aber enorm gut bezahlte Arbeit», sagt er.

Probleme, sich jenem System zu verkaufen, für das er angeblich nie einen Film als Regisseur drehen würde, hat Syles nicht. «Warum denn? Von etwas muss ich ja leben», sagt Sayles, der bei eigenen Regiearbeiten häufig auf ein Honorar verzichtet. «Hollywood stelle ich ja nur mein Handwerk zu Verfügung. Regie führe ich dort nie.» Der Preis sei ihm zu hoch. «Wir leben in einer Zeit, in der alles sehr viel kostet», sagt Sayles. «Will man Geld von einer Bank, muss man Zinsen bezahlen. Will man Geld von Hollywood, muss man Kompromisse eingehen.»

Was das heisst, weiss er aus eigener Erfahrung. Sayles erzählt von Drehbuchkonferenzen, an die er als Scriptdoktor geladen war. «Bei jedem Entscheid, der in Hollywood gefällt wird, überlegen sich die Produzenten jeweils genau, welchen Einfluss das auf die Zuschauerzahl haben wird.» Je komplexer der Charakter einer Figur sei, ist Sayles überzeugt, desto mehr bangten die Produzenten um das künftige Einspielergebnis.

Sayles begann als Schriftsteller. «Ich bin Geschichtenerzähler und denke literarisch.» Heute noch verstehe er wenig von der Arbeit eines Kameramanns, gesteht er. Als seine ersten beiden Romane Mitte der siebziger Jahre von der Kritik gelobt und vom Publikum gelesen wurden, heuerte ihn Roger Corman an. Für den König unter den B-Movie-Produzenten verfasste Sayles alsbald Drehbücher zu so obskuren Billigproduktionen wie «Piranha» oder «Alligator». Wie zuvor bereits Martin Scorsese, Francis Ford Coppola oder Dennis Hopper erlernte auch Sayles von Corman das Handwerk des soliden, kompromisslosen Regisseurs.

Oberstes Ziel war stets die Effizienz. 40 000 Dollar genügten ihm 1980, um einen Erstling zu produzieren. Mit «Return of the Secaucus Seven», einem Film über die späte Zusammenkunft von 68er Aktivisten, begründete Sayles damals die moderne Bewegung des unabhängigen Kinos, aus der später Kultregisseure wie Jim Jarmusch, Spike Lee oder Quentin Tarantino hervorgegangen sind. Sayles machte unabhängiges Kino, lange bevor es als «cool» galt, an Festivals Filme unter der Bezeichnung «unabhängig» zu präsentieren, die in Wirklichkeit von grossen Hollywood-Studios finanziert wurden.

Seither dreht Sayles mit seiner Lebenspartnerin Maggie Renzi mit minimalen Budgets. Produziert und vertrieben werden ihre Filme ausserhalb des Studiosystems. Aus Kostengründen verzichtet das Paar gänzlich auf Stars. «Wenn ich einen Film für vier Millionen Dollar ohne Stars drehe, sehen die Zuschauer auf der Leinwand keinen Unterschied zu einem Film, der 20 oder 30 Millionen Dollar gekostet hat», sagt er. Ein Grossteil der Budgets gehe in Hollywood ohnehin an den überzogenen Gagen der Stars verloren.

Obwohl ihm ein wirklicher Hit noch fehlt, haben alle seine Filme die Budgets wieder eingespielt. Seine thematische Vielfalt schreibt er der unabhängigen Produktionsweise und seiner literarischen Herkunft zu. Er verschliesst sich keinem Genre und keinem Thema. So drehte er Filme über Frauen («Lianna» 1983, «Passion Fish» 1992), Teenager («Baby, It’s You» 1983), das Verhältnis zwischen Weissen und Schwarzen («The Brother From Another Planet» 1984, «City of Hope» 1991), Arbeitslosigkeit während der zwanziger Jahre («Matewan» 1987), ein Baseballteam («Eight Men Out» 1987) sowie irische Mythen («The Secret of Roan Inish» 1994). Mit «Lone Star» kam ein moderner Western hinzu.

Er verspürt wenig Lust, mit einem Hollywood-Film einem breiteren Publikum seine Anliegen zu vermitteln. «Ich denke stets an den Satz, den ich während des Vietnamkriegs oft von Generälen hörte: «Wir mussten das Dorf zerstören, um es zu retten.» Mit Filmen verhält sich das ähnlich», sagt Sayles. «Ich frage mich jeweils, wie weit ich für grosses Publikum gehen kann, ohne dass Gin plötzlich nach Wasser schmeckt oder seinen Geschmack gänzlich verliert.»

Hohle Floskeln für Journalisten, die gerne über die verlogene Allmacht Hollywoods herziehen, sind das nicht. Sayles achtet die Arbeit seiner besser bezahlten und berühmteren Kollegen. Auch gehört er nicht zu jenen Filmern, die nach ersten kommerziellen Erfolgen gleich bei Warner Brothers oder Disney anheuern würden. Er sei, sagt Sayles, «aus Überzeugung unabhängig».

«Lone Star» spielte in den USA bei einem Budget von vier Millionen Dollar über 13 Millionen ein. Zusätzlich wurde der Film für einen Oscar in der Kategorie «bestes Drehbuch» nominiert, was das Videogeschäft enorm belebte und zu weiteren Vertragsabschlüssen bei Fernsehstationen und Verleihern im Ausland führte.

Obwohl Sayles nach «Lone Star» Angebote von grossen Studios erhielt, schlug er einen unbequemen Weg ein. Während vier Monaten drehte er an 52 verschiedenen Orten in Mexiko «Hombres Armados», einen Film über den seit den sechziger Jahren andauernden Bürgerkrieg in Guatemala. Mehrmals erkrankten er und Mitglieder seiner Crew an tropischen Krankheiten. Schwere Unwetter unterbrachen die Dreharbeiten für Wochen. Zum bescheidenen Budget von 3,5 Millionen Dollar trug Sayles selber eine Million bei. Ob der ungewöhnliche Film in den USA dereinst einen Verleiher findet, ist ungewiss. «Hombres Armados» kommt in einer spanischen Version mit englischen Untertiteln in die Kinos. Vor der Kamera agieren unbekannte lateinamerikanische Schauspieler. «Einen solchen Film herauszubringen ist ein schwieriges Unterfangen», sagt Produzentin und Partnerin Maggie Renzi, die sich erst ins Gespräch einmischt, wenn es ums Geld geht.

«Ständig umschreiben»

John Sayles erzählt in seinen Filmen immer auch die Geschichte der USA.

Mister Sayles, Ihr neuster Film «Lone Star» handelt von der Geschichte von Texas. Wenn Sie in die Vergangenheit zurückblenden, schneiden Sie nicht, Sie belassen es bei einem Schwenk. Warum?
John Sayles: Ich wollte filmisch umsetzen, wie stark Gegenwart und Zukunft von der Geschichte bestimmt werden. Sie beeinflusst, was wir tun und wie wir denken.

Sie erzählen die Legende eines Sheriffs, der nach vierzig Jahren tot aufgefunden wird. Inwiefern unterscheiden sich Legenden von Historie?
Sayles: Eine Legende ist Geschichte mit emotionalen Inhalten. In meinem Film reichert jede Figur die Tatsachen mit persönlich gefärbten Erlebnissen an.

In einer Szene streiten sich die Texaner um die Interpretation der texanischen Geschichte. Wie aktuell ist das?
Sayles: Das passiert in den USA jeden Tag. Geschichtsbücher müssen ständig umgeschrieben werden, weil darin oftmals Unwahrheiten stehen.

Was ist falsch?
Sayles: Als ich zur Schule ging, wurde eine weisse, eurozentrische Geschichte gelehrt. Die US-Geschichte begann mit der «Mayflower». Es war die Geschichte der Gewinner, die sagt: «Die Amerikanische Revolution war eine wunderbare Sache. Punkt. Viele Sklaven mochten ihre Herren. Punkt. Indianer waren Säufer. Punkt.»

Wie sollte die US-Geschichte gedeutet werden?
Sayles: Unsere Demokratie hat ein paar wunderbare Dinge hervorgebracht, zum Beispiel die Verfassung oder die Unabhängigkeitserklärung. Beide Schriften wurden aber nie umgesetzt. Von der Amerikanischen Revolution haben weder die Frauen noch die Schwarzen profitiert.

John Sayles’ Film «Lone Star»

Skelett im Sand
*****Regie: John Sayles, mit Kris Kristofferson, Chris Cooper.
Am Anfang liegt das Gerippe. Im texanischen Wüstensand werden die Knochen des ehemaligen Sheriffs gefunden. Vor 40 Jahren verschwand er unter mysteriösen Umständen. Nun untersucht der neue Sheriff den Fall. Was als Krimi beginnt, entwickelt Regisseur John Sayles zu einer präzisen und vielschichtigen Studie über das Amerika Mitte der neunziger Jahre. Mit Rückblenden arbeitet er die texanische Geschichte auf. In Nebengeschichten erzählt er vom noch immer ungeklärten Verhältnis von Weissen, Schwarzen und Chicanos. Dank herausragenden Darstellern ist selbst das Thema Geschwisterliebe unprätentiös. Grosses Kino.