Ein Kämpfer für Irland

Schön, mutig, rechtschaffen - der irische Freiheitsheld Michael Collins hat ein streitbares filmisches Denkmal erhalten.

Von Peter Hossli

Der erste Filmschuss fällt vor dem G.P.O., dem General Post Office der irischen Hauptstadt Dublin. Mit gewaltiger Artillerie zerbombt die britische Armee den Osteraufstand irischer Freischärler, die sich von der Krone lösen wollen. Am selben Tag noch richten die Engländer ein makabres Blutbad an. Sie exekutieren fast alle irischen Anführer.

Das Massaker fand 1916 statt und steht am Anfang von Regisseur Neil Jordans Historiendrama «Michael Collins», das nun in die Schweizer Kinos gelangt.

In England wie Irland entfachte der Film über den besonnenen wie visionären Revolutionär Michael Collins heftige und absonderliche Diskussionen zugleich. Überrascht hat das niemand. Zu lange schon dauert in Nordirland der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Unverheilt bleiben die Wunden des Krieges zwischen republikanischen Iren und den Soldaten der britischen Krone zwischen 1916 und 1921.

Angeführt wurde die irische Lumpenarmee von Michael Collins, einem charismatischen Iren, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1917 die Vorläuferorganisation der Irish Republican Army (IRA) gründete und mit einem erbittert geführten Kleinkrieg England an den Verhandlungstisch zwang. 1921 erreichte Collins in London einen historischen Sieg: England entlässt Irland in die Unabhängigkeit – allerdings zu einem hohen politischen Preis: der protestantische Norden bleibt britisch. Eamon de Valera, der spätere irische Präsident, schimpft Collins einen Verräter an der irischen Sache und zettelt einen Bürgerkrieg an, der das Land teilt und Collins das Leben kostet. 1922 wird er aus dem Hinterhalt erschossen, angeblich auf Geheiss de Valeras.

In Grossbritannien und Irland schrien Politiker jeder Couleur lauthals nach Zensur. Lange vor Drehbeginn schon bildete sich eine unheimliche Allianz gegen Jordans Film. Konservative Politiker fürchteten eine antibritische Satire und warnten den Regisseur, ein «IRA-Propagandavehikel» zu drehen. Republikanische Iren wiederum glaubten, der Ire Jordan verehre Michael Collins – in ihren Augen einziger Schuldiger am geteilten Irland – zu sehr, der Film würde ihn fälschlicherweise zum unantastbaren Märtyrer stilisieren.

Von Collins sind Drehbuchautoren in aller Welt seit Jahrzehnten angetan. Der Mann war aufrichtig und heldenhaft. Gleichzeitig erfasst sein kurzes Leben jeden Widerspruch der jüngeren irischen Geschichte: den Brudermord, den Konflikt unter Katholiken und Protestanten und das romantische Heldentum, gekoppelt mit ungehemmter Brutalität.

Ein Mysterium bleibt Collins’ Liebesleben. Der Revoluzzer starb zwei Wochen vor der geplanten Hochzeit mit seiner Verlobten Kitty Kiernan. Ob er je mit einer Frau geschlafen hat, ist ungeklärt. Die Liebe zu Kitty war seine einzige ernsthafte Beziehung, geschlafen haben die beiden aber bestimmt nie miteinander. «Vielleicht hatte Collins 200 Frauen, wahrscheinlich aber keine», sagt Jordan, der im Film gar eine homoerotische Freundschaft zwischen Collins und einem seiner Gefährten impliziert. «Die beiden verbrachten Jahre zusammen im Militärdienst, teilten Zimmer und Bett.»

Fünfzig Jahre lang bemühten sich Hollywood-Regisseure vergeblich, die Legende Collins ins Kino zu bringen. US-Filmemacher wie John Huston, Michael Cimino, Robert Redford oder Kevin Costner waren fasziniert von der geballten Kraft des Revoluzzers, einer Art mystischer Kombination aus John F. Kennedy, Che Guevara und Lawrence of Arabia: Collins war schön, mutig, hatte ehrenhafte Ideale und war jederzeit bereit, dafür zu töten oder zu sterben – und er weinte öffentlich über den Tod seiner im Kampf gefallenen Männer und Frauen.

Sein eigenes Ende bleibt ein Rätsel. Ähnlich anderen grossen Revolutionären dieses Jahrhunderts – Trotzki, Guevara, Zapata – starb Collins einen heroischen, bis heute ungeklärten, von Verschwörungstheorien umhüllten Tod. Nach vierjährigem erfolgreich geführtem Untergrundkrieg lenkten die Briten 1921 zu Verhandlungen ein. Irlands inoffizieller Präsident de Valera schickte Collins nach London, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. Der versierte Stratege, aber unfähige Diplomat brachte einen Kompromiss nach Hause, der die Abtrennung der nordirischen Provinzen vorsah – für viele Historiker der Grundstein des Konflikts in Nordirland. De Valera, in Jordans Film mit Bravour von Alan Rickman verkörpert, nutzte die diplomatische Niederlage seines ehemaligen Weggefährten und provozierte einen Bürgerkrieg gegen Collins’ Anhänger. Aus dem Hinterhalt wurde Collins ermordet.

Jordan lässt in seinem Film offen, ob de Valera das Attentat zu verantworten hat, impliziert im Gespräch aber dessen «Interesse» an Collins’ Tod: «De Valera übernahm ein von Collins befreites Land, das er nun nach Gutdünken formen konnte.» Jahre später wehrte sich der bis 1973 im Präsidentenamt bleibende de Valera noch gegen die US-Filmprojekte über Michael Collins. Er unternahm alles, um Dreharbeiten an den Originalschauplätzen in Irland zu verhindern. Ein Film über Collins, fürchtete de Valera, würde seinem Ruhm als Übervater der Iren schweren Schaden zuführen. Nach dessen Tod verunmöglichte der Terror in Belfast einen Collins-Film; jahrelang wagte sich kein Studio an das Projekt.

Der nun von Jordan realisierte Film ist das Resultat einer Ausdauerprüfung. Bereits 1982 verfasst er sein erstes Drehbuch. Doch der offene Bürgerkrieg in Nordirland zwischen republikanischen Katholiken und protestantischen Unionisten hielt amerikanische Geldgeber ab, den Film zu finanzieren. Erst das Belfaster Waffenstillstandsabkommen von 1994 eröffnete Jordan die Möglichkeit zu drehen. Zusätzlich ermunterte Jordans kommerzieller Erfolg mit «Interview with a Vampire» die US-Produktionsfirma Warner, für «Michael Collins» 30 Millionen Dollar bereitzustellen.

Eine bescheidene Summe für einen Film über jenen Mann, der wegen seiner im Strassenkampf Dublins praktizierten Stadtguerillataktik zum Mythos wurde. Erst Collins’ Hit-and-run-Strategie, unterstützt von einem Heer äusserst effektiver Gegenspione, zwang die Briten an den Verhandlungstisch. In den Details verfeinert, bezieht sich die IRA nach wie vor auf Collins’ Bombenterror. Militärhistoriker sehen in ihm gar den Erfinder des modernen Terrorismus. Zumindest wirkte seine Taktik lange Zeit nach. In den fünfziger Jahren studierte der chinesische Staatschef Mao Zedong Collins’ Strategie, der sowjetische Geheimdienst KGB widmete ihm ein Kapitel in seinem Spionagehandbuch, und der israelische General Yitzhak Shamir verwendete während des Unabhängigkeitskrieges den Codenamen «Micail» – Referenz an Collins.

In Irland und England selbst geriet Collins in Vergessenheit. «Wahrscheinlich, weil er mit 31 starb», sagt Jordan. «Oder weil alle versuchten, die Erinnerung an ihn aus dem Gedächtnis zu streichen.»

Trotzdem erhitzte Jordans Film über den vergessenen Revoluzzer die Gemüter, als «Michael Collins» im vergangenen Herbst in die britischen Kinos gelangte. Englische wie nordirische Zeitungen erkannten eine «gefährliche Umdeutung der historischen Fakten». Der in London publizierte unionistische «Daily Telegraph» verlangte von Warner Brothers den sofortigen Rückzug des Films. Die Boulevardpresse folgte dem Aufruf.

In Irland verfasste ein politischer Kolumnist der irischen Ausgabe der «Sunday Times» wüste Attacken gegen Jordan. Sein Film sei «schlechte Geschichte, schlechte Moral und schlechte Kunst».

Politiker in England wie in Nordirland, wo der Film nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen gezeigt wurde, fürchteten den Abbruch der Waffenstillstandsverhandlungen. Sie warnten davor, «Michael Collins», der den bewaffneten Kampf preise, übe Druck auf Gerry Adams aus und könne damit den Friedensprozess gefährden. Der Leader des politischen Flügels der IRA gilt als einziger Garant einer friedlichen Lösung.

Das Publikum kümmerte sich wenig um das Gezänk. In Irland und selbst in England erzielte «Michael Collins» Rekordergebnisse und stand während Wochen an erster Stelle der Kinohitparade. Im Vereinigten Königreich spielte er rund fünf Millionen Dollar ein, im bevölkerungsärmeren Irland gar sechs Millionen; nicht einmal Spielbergs «Jurassic Park» war erfolgreicher. «Die Kontroverse hat «Michael Collins» bestimmt geholfen», sagt die Direktorin der internationalen Abteilung von Warner Brothers, Nancy Carson.

Nur in den USA floppte der Film. Wahrscheinlich, schrieb die «Irish Times», weil Jordan das von James Joyce als «unser liebes, aber dreckiges Dublin» geschilderte Irland zeige, nicht aber das heitere und Bier trinkende Volk.

«Collins war einzigartig»

Der Regisseur von «Michael Collins» weist Vorwürfe der Geschichtsklitterung von sich.

Neil Jordan, haben der britische Premierminister Major oder Sinn-Fein-Chef Gerry Adams «Michael Collins» gesehen?
Neil Jordan: Ich weiss es nicht. Vernommen habe ich aber, dass der Film beiden missfallen habe. Politiker neigen zur Verurteilung von Dingen, die sie nicht kennen.

Sie haben zwei Jahrzehnte am Stoff gearbeitet. Was fasziniert Sie an der Figur Michael Collins?
Jordan: Collins hatte ein kurzes Leben. Dennoch lassen sich an seiner Person alle Widersprüche und ironischen Gegebenheiten zeigen, die die Gründungsgeschichte Irlands prägen.

Fühlten Sie sich als Ire verpflichtet, einen Film über den vergessenen irischen Helden zu drehen?
Jordan: Verpflichtet nicht, aber ich war lange der Ansicht, Collins’ Leben müsse verfilmt werden. Es gibt wenig Filme, die sich der politischen Geschichte Irlands annehmen. Niemand wagt sich an unsere Genesis. Iren tendieren dazu, die Jahre 1916 bis 1922 zu vergessen. Collins ins Rampenlicht zu rücken, war eine Notwendigkeit.

Wie haben Sie sich den Geschehnissen von damals angenähert?
Jordan: Mit einer fast dokumentarischen Methode. Mein Drehbuch entstand auf Grund historischer Quellen.

Stimmt also alles?
Jordan: Verändert habe ich ein paar Nebenfiguren. Aus drei Personen entstand eine. Die Fakten aber blieben unberührt.

Historiker sehen das anders. Sie werfen Ihnen Geschichtsklitterung vor.
Jordan: Kritisieren kann man höchstens, dass ich Dinge weggelassen habe. Es ist schliesslich ein Film, der von Charakteren und von der Dramaturgie leben muss. Was im Kino zu sehen ist, stimmt.

Sie lassen ein Auto explodieren. Dabei verwendete die IRA erst viel später Autobomben im Kampf gegen England.
Jordan: Da haben Sie nicht richtig hingeschaut. Der Film zeigt keine klassische Autobombe. Der Wagen parkt auf einer Mine. Davon gab es damals viele.

Das US-Magazin «Time» wirft Ihnen unzulässiges Zurechtbiegen der historischen Fakten vor.
Jordan: Ich war ziemlich überrascht, wie schlecht informiert Journalisten oft sind. Die nehmen einen Schnellkurs in irischer Geschichte und glauben dann, sich ein Urteil bilden zu können.

Wenn alles stimmt: Warum die nicht abbrechenden Vorwürfe, «Michael Collins» sei mehrheitlich Fiktion?
Jordan: Es sind ideologische Gründe. Vor allem die Briten wollen nicht wahrhaben, was damals passierte. Die Beziehungen zwischen England und Irland sind geprägt von Missverständnissen und verdrehten Fakten. Was viele Kritiker störte, ist die Perspektive des Films. Vor allem Revisionisten sagen, der bewaffnete Kampf gegen England sei unnötig gewesen.

Welches ist Ihre Perspektive?
Jordan: Ich bin der Meinung, dass der Krieg notwendig war, dass Collins die irische Armee effektiv führte. Die Briten waren nur so zu Verhandlungen zu bewegen.

Dann ist Ihr Film Propaganda für die IRA und den Bürgerkrieg?
Jordan: Das wird mir von unionistischer Seite vorgeworfen, ist aber unsinnig. Die IRA führt seit zwanzig Jahren einen brutalen Kampf gegen den Vertrag, den Michael Collins ausgehandelt hat. Mein Film sagt, Irland sei dank diesem Vertrag gegründet worden.

Die IRA hat Ihren Film ja ebenfalls heftig angegriffen.
Jordan: Die IRA müsste sich auf die Seite von de Valera stellen, dem späteren irischen Präsidenten. Er bekämpfte den von Collins ausgehandelten Vertrag. Die historische Legitimität der IRA kommt von de Valeras Opposition gegen Collins’ Vertrag.

Und Sie zeigen de Valera als ziemlich zwiespältige Figur.
Jordan: Was er ja zweifelsohne war.

Er war der erste Präsident der irischen Republik und blieb es bis 1973, als er im Alter von 91 Jahren starb. Mit Ihrem Film stürzen Sie ein nationales Monument vom Sockel.
Jordan: Die vierziger und fünfziger Jahre waren eine desillusionierte Zeit. Künstler wurden von der Regierung de Valera massiv zensuriert. Viele verliessen das Land. Die katholische Kirche übernahm die Kontrolle über das öffentliche Leben. De Valera war desinteressiert an der ökonomischen Entwicklung des Landes. Er war eine Figur aus den dreissiger Jahren wie der Spanier Franco oder der Portugiese Salazar. Ein Faschist war er nicht, aber um Demokratie ging es ihm nicht.

De Valera war lange Zeit ein Idol, ein Staatsmann, an dem sich das Volk orientiert hat. Wie haben die Iren auf Ihre Zerstörung dieses Mythos reagiert?
Jordan: Gelassen. Der Mythos de Valera, überhaupt der gesamte irische Nationalismus, zerbrach in den letzten Jahren.

Vor einem Jahr hat Mel Gibson mit «Braveheart» die schottische Geschichte neu interpretiert. Nun verfilmen Sie die irische Geschichte. Finanziert wurden beide Filme von US-Studios.
Jordan: Ich hätte «Michael Collins» gerne mit einer britischen Firma gedreht, viele wären auch bereit gewesen. Im Weg stand nicht Ideologie, sondern Geld. Es gibt hier keine Produktionsfirma, die 30 Millionen Dollar für einen Film ausgibt.

In England und Irland war der Film erfolgreich, nicht aber in den USA. Warum?
Jordan: Weil er zu düster, zu schwierig ist. Mein Film zeigt kein rosiges Irlandbild. Zudem interessiert sich dort derzeit niemand für ausseramerikanische Politik. Es ist erschreckend, wie apolitisch dieses Land derzeit ist. Die USA befinden sich in einem total desinteressierten Zustand. Von den politischen Bewegungen der sechziger Jahre ist nichts übrig geblieben.

Wie haben die Iren reagiert, als Sie in Dublin drehten?
Jordan: Es war eine einzige Katharsis für das ganze Land. Fast jeder Ire hat noch Grosseltern, die in den Befreiungskampf involviert waren. Dank den Dreharbeiten und später dank dem Film konnte endlich darüber gesprochen werden.

Kann eine Einzelperson den Lauf der Geschichte denn bestimmen?
Jordan: Es ist ein alter Streit unter Historikern. Was Collins betrifft, war er einzigartig. Bis er kam, war die irische Geschichte Jahrhunderte lang von gescheiterten Versuchen geprägt, sich von England zu lösen. Collins hat es verstanden, das Land in eine neue Richtung zu lenken. Insofern hat er als Einzelperson die Geschichte verändert.

Warum blieb Michael Collins ausserhalb von Irland denn so lange eine unbekannte Figur?
Jordan: Er starb jung. Nach seinem Tod wurde der Gründervater von seinen Gegnern verdrängt. De Valera unternahm alles, jede Erinnerung an Collins zu verdrängen.

Britische Politiker und Journalisten riefen offen zur Zensur von «Michael Collins» auf. Dasselbe geschah mit «Crash» oder «Natural Born Killers». Warum ist Grossbritannien ein Land von Zensoren?
Jordan: Warum wohl? Seit Jahren wird das Land von einer extrem reaktionären Tory-Regierung geführt.

Leben und Sterben für die Unabhängigkeit – Michael Collins

1890: Geburt Collins’.
1906: Collins zieht nach London, arbeitet bei der Post und wird Mitglied der Geheimorganisation Irish Republican Brotherhood.
1916: Collins kehrt nach Dublin zurück und nimmt an den Osteraufständen teil, die für die republikanischen Iren in einem Desaster enden. Die irische Öffentlichkeit unterstützt die Aufständischen. Collins wird interniert.
1917: Wieder frei, übernimmt er das Ministerium für Finanzen und Spionage.
1918/1919: Collins formiert eine Guerillaarmee und die Gegenspionage.
1920: Der Guerillakrieg eskaliert. Collins zerstört das britische Spionagenetz. Englische Soldaten schiessen während eines Fussballspiels in die Zuschauer.
1921: Collins geht nach London, um die Unabhängigkeitsverhandlungen zu führen. Irland entsteht.
1922: Nordirland wird gegründet. De Valera weist das Abkommen zurück. Der irische Bürgerkrieg bricht aus. Collins wird in der Nähe seines Wohnortes erschossen.