Hollywood guckt durch die Brille

Das letzte Tabu des amerikanischen Kinos fällt. Auf der Leinwand plumpsen die Exkremente in die Porzellanschüssel.

Von Peter Hossli

Elisabeth Shue sitzt auf der Brille. Sie uriniert, greift dann zum Klopapier, zupft ein paar Blätter ab und trocknet damit ihre Schamhaare. Nicolas Cage sitzt auf der Couch und trinkt Schnaps. Durch die offene Toilettentüre sprechen die beiden über den Zustand der Menschheit. Unterbrochen wird die Konversation nur von der Wasserspülung, die Shues Harn in die Kanalisation der Wüsten- und Spielerstadt Las Vegas spült.

Die Szene stammt aus dem amerikanischen Film «Leaving Las Vegas». Nicolas Cage und Elisabeth Shue verkörpern im Oscar-gekrönten Alkoholikerdrama ein Paar ohne Perspektive. Er spielt einen gescheiterten Drehbuchautor und trinkt sich zu Tode. Sie ist ein Prostituierte. Emotional treffen sie sich auf der Toilette.

«Leaving Las Vegas» gelangt diese Woche in die Schweizer Kinos. Er ist nicht der einzige neue US-Film, in dem Menschen auf Klos sitzen. Zelluloid defäkiert oder harniert, auf der Toilette diskutiert oder gemordet wird derzeit im Serienmörder-Thriller «Copycat», im Bruderdrama «The Brothers McMullen» oder in «GoldenEye», dem 17. James-Bond-Abenteuer. Vor dem Hauptfilm wirbt jeweils eine junge Frau auf der Herrentoilette für Levi’s-Jeans. Sie wechselt im neusten Hosenwerbespot im Beisein eines kotenden Mannes ihre Kleider.

WC-Schüsseln, Urinale und Toilettenpapier gehören immer häufiger zum Standardrepertoire amerikanischer Filme.

Das ist neu. Bis vor kurzem waren Aborte und Exkremente in öffentlichen Darstellungen und somit auch im Kino ein Unding. Die flüssige oder feste Ausscheidung auf der Toilette ist eines der letzten Tabus der amerikanischen Gesellschaft.

Nackte Brüste oder hängende Penisse überraschen selbst in aufwendigen, auf ein Massenpublikum zugeschnittenen Filmen niemanden mehr. Harnen und Defäkieren gehören hingegen ins Private und somit nicht auf die Leinwand. Der «Production Code», ein von den Filmstudios 1934 sich selbst auferlegtes Zensurkorsett, verbot während dreissig Jahren jegliche Darstellung von WC-Schüsseln oder Urinalplätzen. Spül- und Plumpsklänge auf der Tonspur gab es keine.

Am Anfang des Trends zur filmischen Ausscheidung stand ein kleiner britischer Film über die Selbstbestimmung weiblicher Sexualität. In «Twenty-One» erzählte die Schauspielerin Patsy Kensit 1991 dem Publikum ihre noch kurze Lebensgeschichte frontal in die Kamera. Dabei sass sie genüsslich auf dem «Thron» und las eine englische Boulevardzeitung.

Seither entleeren Männer wie Frauen auf der Leinwand Därme und Blasen, plazieren Tampons oder füllen die Porzellanschüsseln mit Erbrochenem. Kurz, sie erledigen das Alltäglichste am dafür vorgesehenen Ort.

Mitunter kann das tödlich enden. In «Jurassic Park» (1993) wurde Samuel L. Jackson von einem Tyrannosaurus Rex auf dem «Thron» sitzend gefressen. Gangster John Travolta las in «Pulp Fiction» (1994) auf dem Klosett ein Comic-Heft, bevor Bruce Willis ihn kaltblütig erschoss. Der Serienkiller aus «Copycat» würgt eines seiner Opfer auf der Frauentoilette.

Ansonsten ist das stille Örtchen ein vertrauter Ort der Entsorgung geworden. In «Blue in the Face», einer lieblichen Hommage an Brooklyn, erörtern Michael J. Fox und Giancarlo Esposito die Frage, ob man nach dem Schiss einen Blick zurück in die Schüssel werfen müsse, um Grösse und Beschaffenheit der Absonderung zu überprüfen.

Diese Allgegenwärtigkeit der Toilette überrascht. «Das WC ist in den USA ein völlig tabuisierter Ort», sagt Semiotik-Professor Jason Drucker von der De Paul University in Chicago. «Nichts ist in unserer Kultur peinlicher als der Stuhlgang.»

Die Rituale und Konventionen der Toilette sind kulturell und gesellschaftlich genau festgelegt: Beim Urinieren auf einem öffentlichen Abort spricht man nicht miteinander. Der Abstand zum nächsten Mann wird so gross wie möglich gewählt. Die Türe bleibt geschlossen, wenn sich jemand auf der Brille niederlässt. «Oft dauert es Jahre, bevor Eheleute das Portal des Badezimmers offenlassen», sagt University-of-California-Professorin Carol Clover, Autorin des Buches «Men, Women and Chainsaws».

An die gängigen Abort-Konventionen hält sich das Kino allerdings nicht. Elisabeth Shue lässt in «Leaving Las Vegas» die Türe weit offen, wenn sie uriniert. Shues Partner Nicolas Cage führt das Gespräch regungslos fort. Die beiden kennen einander seit ein paar Stunden.

In Kriminalfilmen stellen sich die Polizisten auf dem Pissoir meistens direkt neben ihre Informanten. Oft tauschen sie minutenlang Gaunerbanalitäten aus und lassen dabei ihren Harn. In der Realität bringen manche Männer keinen Tropfen aus dem Leiter, wenn jemand neben ihnen steht oder wenn sie sprechen müssen.

Der Psychoanalytiker Marco Monico deutet den WC-Trend als «eine Verschiebung von der genitalen zur analen Lustsphäre». In einer Gesellschaft, in der die Sexualität unterdrückt werde, fände «eine Rückbesinnung auf die weit weniger problematische anale Sexualität» statt.

Vor wenigen Jahren wäre dies in den von puritanischen Moralvorstellungen geprägten USA noch unmöglich gewesen. Kam eine Toilette dennoch auf die Leinwand, hatte sie immer eine tiefenpsychologische Bedeutung. 1987 inszenierte Regisseur Stanley Kubrick den Klimax seines grandiosen Antikriegsfilms «Full Metal Jacket» im Scheisshaus einer Kaserne. Ein junger Rekrut jagte sich auf der Toilette eine Kugel in den Kopf. Zeigen wollte Kubrick in seiner mit Analmethaphorik überladenen Szene, dass der Krieg die Menschheit ins Verderben stürzt, ergo in die zivilisatorische Kanalisation treibt.

Von seinem symbolischen Gewicht konnte nicht einmal Alfred Hitchcock das WC entlasten. Der Brite in Hollywood wurde von seinen Produzenten mehrmals angehalten, das Geräusch von Klo-settspülungen aus der Tonspur zu entfernen. Hören durfte man die Klärung einer Stuhl- oder Urinentleerung nicht, geschweige denn sehen.

Wäre es nach Hitchcock gegangen, hätte Janet Leigh im Klassiker «Psycho» (1960) vor der Dusche nonchalant den Inhalt ihrer Blase in die Porzellanschüssel entleert. Der «Production Code» und die Produktionsfirma Paramount verboten dem Meister des Suspense allerdings die WC-Schüssel. Im Kino sah das Publikum dann nur Leighs nackten Rücken. Statt Urin spritzte Blut.

Gewalt ist seit den Urzeiten des Kinos salonfähig. Körperliche Ausscheidungen aber bildeten bis vor kurzem die letzte Tabuzone Amerikas. Heute witzelt Whoopi Goldberg vor über einer Milliarde Fernsehzuschauern als Moderatorin der Oscar-Show über die Farbe ihrer Fürze.

Nach Zensur schreit niemand mehr. «Wir haben keine spezielle Regelung bezüglich Toilettenszenen», sagt Barbara Dixion. Sie steht der Motion Picture Association of America vor, jener Organisation, die die Altersgrenze von Filmen festsetzt. Zeigt ein Film Exkremente, werde die Alterslimite nur «leicht nach oben korrigiert».

Gänzlich unverkrampft ist das Verhältnis der Amerikanerinnen und Amerikaner zum Klosett allerdings noch nicht. Liz Miller, Marketingleiterin der «Leaving Las Vegas»-Produktionsfirma Lumiere Films, verweigerte FACTS die Veröffentlichung von Bildern der WC-Szene. «Elisabeth Shue ist die Szene zu peinlich», sagt Miller.

«Leaving Las Vegas»

Die Abrechnung

«Leaving Las Vegas» sollte der letzte amerikanische Film des Briten Mike Figgis («Internal Affairs») werden. Nach dem Flop von «Mr. Jones» wollte kein Studio mehr seine Karriere als Hollywoodregisseur bezahlen. Figgis wandte sich dem unabhängigen Kino zu. Für 3,5 Millionen Dollar entstand «Leaving Las Vegas», Figgis’ Abrechnung mit Hollywood: Ben (Nicolas Cage), ein gescheiterter Drehbuchautor, verlässt Los Angeles. In Las Vegas, wo die Träume nicht auf der Leinwand, sondern im Casino gelebt werden, will er sich in vier Wochen zu Tode saufen. Davor bewahren soll ihn die Edelprostituierte Sera (Elisabeth Shue). Aus der Beziehung der beiden Randfiguren entwickelt der Regisseur am grellsten Ort Amerikas ein leises Kammerspiel. Elegant bewegt er sich auf dem schmalen Grat zwischen Milieustudie und Betroffenheitskitsch. Ob Figgis Hollywood nach «Leaving Las Vegas» wirklich verlässt, ist fraglich. Der Film wurde mit einem Oscar ausgezeichnet und spielte in den USA 30 Millionen Dollar ein.