Zwinkernde Gestalten

In New York unternehmen Künstler und Programmierer den nächsten Schritt: Wichtig ist nur noch, was auf dem Computer geschieht. Das Wie und Warum halten sie für uninteressant.

Peter Hossli

Gregoire atmet nicht. Nahrung benötigt er keine. Auf die Toilette gehen muss er nie. Aber er kann denken.

Zuweilen beschert er der New Yorker Computerwissenschaftlerin Clilly Castiglia auch erotische Träume.

Tagsüber lebt Gregoire, Schauspieler und Tänzer von Beruf, in einem Computer des Center for Advanced Technology (CAT) der New York University, einem der führenden US-Forschungszentren im Bereich Multimedia und Computerwissenschaften.

Hämmert Clilly Castiglia für Gregoire auf ihrem Schlagzeug rum, beginnt dieser zu tanzen, auf dem Bildschirm. Er mag Rock. Ertönt Techno-Musik, bleibt er mürrisch in einer Ecke sitzen.

Gregoire hat Stil. Seine Bewegungen werden dann geschmeidig, wenn «meine Musik ihn packt, wenn sie gut und sinnlich klingt», sagt Castiglia. Spielt sie «mittelmässig oder schlecht», verliert der digitale Tänzer die Lust am Tanzen.

Gregoire ist eine Kunstfigur, ein digitales Wesen, das sich nur bewegt, vermeintlich denkt und fühlt, wenn der Stecker eines Computers am Strom angeschlossen ist. Er gehört zur Gattung der «Improvisational Actors» und wurde vor zwei Jahren am CAT im Rahmen des Programms «Improvisational Animation» geschaffen. Von Menschen.

Vor ein paar Tagen spielte Castiglia, die seit bald 15 Jahren in verschiedenen Rockbands das Schlagzeug führt, zur Glanzform auf. Gregoire war begeistert und zwinkerte ihr nach einem rockigen Solo zu. Die Wissenschaftlerin konnte zufrieden nach Hause gehen. Und träumen.

Geträumt wird oft und intensiv am Center for Advanced Technology im zwölften Stock eines imposanten Backsteingebäudes in Manhattan. Die Adresse ist vornehm: 715-719 Broadway, New York City, zwischen Greenwich Village und der trendigen East Side gelegen. Seit drei Jahren verfolgen dort Computerspezialisten, vor allem aber Künstler und Wissenschaftler denselben Traum: Sie wollen die Vorstellung des Computers als reine Additionsmaschine verschwinden lassen, aber auch die alte Mär von der bösen Kiste, die den Menschen beherrscht, kontrolliert und obsolet macht.

Bald schon, hoffen die gegen dreissig Angestellten von CAT, soll nicht mehr über die Leistungsfähigkeit von Computern geredet werden, sondern nur noch darüber, welche Inhalte dank den Computern und den Datennetzen von überall her greif-, ergänz- und veränderbar werden. Bald schon sollen Computer mehr Arbeitsplätze schaffen als zerstören.

Diesbezüglich beschreitet das Center for Advanced Technology neue Wege. An den renommierten technischen Universitäten wie der ETH in Zürich, dem Georgia Tech in Atlanta oder dem Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) in Boston sind es vornehmlich Programmierer und Ingenieure, die an der Weiterentwicklung der digitalen Welt forschen. Im Vordergrund stehen dort nach wie vor die Maschinen und deren Rechnerleistung. Was die Menschen mit den Rechnern sollen, bleibt zweitrangig.

An der NYU ist es umgekehrt. Dort erlernen Künstler das Programmieren, erforschen Musiker, Drehbuchautoren oder Skulpteurinnen die Anwendungsbereiche der Technik. Entworfen wird die digitale Zukunft des Alltags.

Diese Zukunft ist interaktiv, und sie ist vernetzt. Geht es nach den visionären Plänen der CAT-Denker, werden Figuren wie Gregoire schon bald mit Menschen kommunizieren, mit ihnen arbeiten und danach mit ihnen spielen.

Bevorzugtes Medium – der Ort dieser Begegnung dritter Art – wird das Internet sein, daran zweifelt niemand. Die meisten CAT-Forschungsprojekte befassen sich denn auch mit dem weltumspannenden Datennetz. Federführend sind nicht Techniker, sondern Leute, die etwas zu sagen haben, die Daten, vor allem aber bewegte Bilder, Fotos, Töne und Texte dem Rest der vernetzten Welt zur Ansicht bereitstellen.

Die CAT-Maxime bleibt die Kommunikation, nicht das Kommunikationsmittel. Wenn jemand telefoniere, so ein Leitmotiv, denke längst niemand mehr an die Technik des Telefons. Wichtig sei bloss noch der Inhalt, der per Telefon übermittelt werde, sowie der Adressat, an den dieser Inhalt gerichtet ist. Der Computer – «ein weitaus vielfältigeres Kommunikationsmittel als das Telefon», sagt CAT-Direktor Ken Perlin – müsse endlich von seinem Nimbus als gefährliche Maschine, Überwachungsinstrument und Arbeitsplatzkiller befreit werden.

Dabei behilflich sein sollen Gregoire und seine digitalen Kumpane: eine Tänzerin, Sängerstar Luciano und Otto – alles Mitglieder des «Improv»-Ensembles.

Ihr Urahne, Ende 1993 geboren, war eine simple Strichfigur. Noch namenlos und ohne Geschlecht. Sie reagierte auf einen heranfliegenden Vogel. War die Fluggeschwindigkeit des Vogels hoch, suchte das Figürchen Schutz. Es wähnte Gefahr.

Glitt das Flugobjekt aber langsam heran, glaubte sich die Strichfigur in Sicherheit und sah im Vogel einen treuen Freund. Intuitiv griff sie nach ihm. Sie wollte ihn liebkosen wie ein Haustier.

Aus dem Strichmännchen entstand alsbald eine Tänzerin, die nach live eingespielter Musik tanzte. Ihre Bewegungen erfolgten in Realzeit, sie wiederholten sich nie. Aus Fehlern lernte die dunkelhaarige Frau. Tanzen konnte die Tänzerin bald fast jeden Schritt, ob klassisch oder modern, ob Ballett, Walzer oder Jazz.

Auf die Tänzerin folgte der Mann mit Charakter: Gregoire, interaktiv und Musik liebend, der auf andere digitale Figuren, aber auch auf Menschen reagieren, sie lehren und von ihnen lernen kann.

Noch lebt Gregoire einzig in den Computern der New York University und in einem Testlabor des Softwaregiganten Microsoft.

Bald schon könnte er auf dem Internet mit der ganzen Welt in Kontakt treten. Bald könnte er als Musiklehrer einer talentierten Geigerin Beethovens Neunte beibringen. Oder Gregoire könnte mit anderen «Improv»-Figuren nach Vorgaben des Programmierers die dramatische Qualität eines Drehbuches testen oder selber eines schreiben.

Möglich ist dies nur in einem veränderbaren Medium wie dem Internet. «Wir machen keine Filme, keine CD-ROMs, auch keine Videospiele», sagt CAT-Direktor Ken Perlin, der 1982 an Disneys Computertrickfilm «Tron» federführend mitarbeitete. «Wir entwerfen Charaktere, die in Realzeit auf Menschen, aber auch auf andere «Improv»-Figuren reagieren können.»

Im Büro von Athomas Goldberg stehen fünf Computer, leistungsfähige Macintosh-Maschinen und Hightech Silicon-Graphics-Computer. Von seinem Fenster aus sieht er die für New York typischen hölzernen Wassertürme. Auf einer Ablagefläche liegt das «Handbook of Human Intelligence», das Handbuch für menschliche Intelligenz. Daraus holt sich Goldberg seine Inspirationen.

Zusammen mit Ken Perlin gehört er zu den treibenden Kräften hinter «Improv». Als Programmierer verleiht der ehemalige Filmregisseur und Drehbuchautor Figuren wie Gregoire oder dem italienischen Opernstar Luciano, der nach Bewegungen eines – realen – Dirigenten Tenöre singt, Charakter, Gefühle und Angst sowie negative und positive soziale Verhaltensformen wie Rücksicht oder Arroganz. «Leben», sagt Goldberg.

Will er Gott sein? «O nein.»

Die Diskussion bleibt kurz. In der Schaffung künstlicher Intelligenz will er kein ethisches Problem sehen. Lieber widmet er sich der Arbeit, die er als «faszinierendes Experiment» betrachtet. «Ein Computer bleibt eine Maschine. Technologie ersetzt nie das Talent, das die Maschine programmiert», sagt Goldberg.

Schöne neue Welt in New York City? Aber sicher. George Orwells oder Aldous Huxleys Geist sucht man am Center for Digital Multimedia vergebens.

Dafür tritt Talent nirgendwo konzentrierter auf als in Manhattan zwischen Canal Street und dem Union Square. Im Gebäude neben dem CAT befindet sich etwa die renommierte Filmschule der New York University. Dort lernten US-Regisseure wie Spike Lee, Martin Scorsese oder Oliver Stone ihr Handwerk. Tänzer, Fotografinnen, Designer oder Schriftstellerinnen, die an der NYU studiert haben, gehören ebenfalls zu den treibenden Kräften der US-Kunstszene.

«Eine ideale Voraussetzung», sagt Cynthia Allen, ehemalige Filmproduzentin und heute Programmkoordinatorin des CAT, für eine Forschungsstätte, die die multimediale Welt zu ergründen sucht und die weltumspannenden Netzwerke mit kreativen Inhalten füllen möchte.

Ins Leben gerufen wurde CAT vor drei Jahren auf Grund einer Initiative des US-Bundesstaates New York. Das damals noch Center for Digital Multimedia genannte Institut sollte einerseits Fachkräfte im Bereich Multimedia ausbilden, anderseits neue Produkte entwickeln und verkaufen. Im Vordergrund stand die Schaffung hoch qualifizierter Arbeitsplätze im Grossraum New York. Auf fünf Jahre hinaus unterstützt die Regierung CAT mit jährlich einer Million Dollar, allerdings nur, wenn mindestens ebenso viel von anderen Geldgebern beschafft werden kann. «Derzeit kein Problem», sagt Cynthia Allen, die mit potenziellen Geldgebern Verhandlungen führt. «Alle wollen in die digitale Zukunft investieren.»

Inzwischen beläuft sich das CAT-Budget auf vier Millionen Dollar jährlich, bezahlt bereits mehrheitlich von der Privatindustrie. Firmen wie Microsoft, Sony oder Disney beobachten die Forschung des Zentrums gespannt und stehen Schlange, um in das zukunftsträchtige Know-how investieren zu können.

Der von Bill Gates kontrollierte Softwaregigant Microsoft bezahlt CAT pro Jahr 100 000 Dollar. Gegenleistung: Ein paar Microsoftforscher dürfen mit «Improv» spielen. Sehen sie nach drei Jahren eine kommerzielle Anwendung, wird Microsoft das «Improv»-Patent wohl kaufen.

Multimedia-Geschäfte schliesst man Mitte der neunziger Jahre an der Ostküste ab. Längst hat New York das Silicon Valley (Silizium-Tal) als Mekka der Computerfreaks abgelöst. Im südlich von San Francisco gelegenen Tal, einst Geburtsstädte des legendären Apple Computers, leben und arbeiten zwar noch immer die meisten Ingenieure und jene smarten Techniker, die die Maschinen das Rechnen lernen.

In New York aber leben die «Content Providers», Menschen, die Inhalte liefern. Und, ebenso wichtig, in New York sind drei Industriezweige beheimatet, deren Augenmerk Multimedia-Anwendungen besonders gilt: die Werbeindustrie, die grossen Printmedienkonzerne und der Finanzmarkt, der Forschung und Entwicklung finanziert. Die Börse an der Wall Street, Herz der Geldindustrie, reagiert jeweils mit Quantensprüngen auf Meldungen neuer Erfindungen.

Besonders hoch nach oben schlägt der Dow Jones Industrial Index aus, wenn neue Anwenderprodukte auf den Markt kommen. Von Menschen erleb- und erfahrbare Inhalte, nicht komplexe technische Apparate sind gefragt.

Selbst die Industrie suche vermehrt nach der «humanistischen Ebene» der Chips, Bytes und Bits, sagt Cynthia Allen.

Was damit gemeint sein könnte, wissen am CAT am ehesten Emily Hartzell und ihre Partnerin Nina Sobell. Seit zwei Jahren sind die Fotografin Hartzell und die seit den sechziger Jahren interaktiv arbeitende Skulpteurin Sobell «Resident Artists» an der NYU, Künstlerinnen, denen mehrere Computer, ein Arbeitsplatz und ein Internetanschluss zur Verfügung stehen. Mit ihrem am CAT entwickelten Projekt «ParkBench» verfolgen sie politische und künstlerische Ziele.

Sie wollen das noch immer einer «reichen und gut gebildeten Elite vorbehaltene World Wide Web mit Internet-Kiosken in Bibliotheken und Quartierzentren demokratisieren, also für alle zugänglich und interaktiv machen.

Zudem rücken sie ihre Kunst aus den erlesenen, fast ausschliesslich von begüterten New Yorkern besuchten Galerien in Soho weg. Stattdessen zeigen sie Bilder, Fotos und Skulpturen, für alle sichtbar, auf dem Internet. Damit die ganze Welt an ihrem Werk teilhaben kann, veranstalten Hartzell und Sobell zusätzlich jeden Mittwochabend eine Live-Performance, übertragen ebenfalls auf dem Internet.

Unbeirrt vom europäischen Kulturpessimismus ist das Internet zur bevorzugten Experimentierfläche der CAT-Menschen geworden – eine Art New Frontier, die es zu erobern gilt.

Überwiegend junge Menschen sitzen in fensterlosen, graugelb wirkenden Räumen vor Bildschirmen und Tastaturen. Sie wirken konzentriert, ihre Energie ist spürbar. Nur der Kaffee in den Pappbechern ist kalt geworden. Die Männer sind nicht rasiert, keine der zahlreichen Frauen – Anteil 40 Prozent – geschminkt. Im Vergleich zum sonst äusserst formalen Umgang an US-Universitäten herrscht hier Post-Hippie-Atmosphäre.

Dennis geht noch auf die High-School. Er ist 17-jährig und verbringt ein paar Wochen als Praktikant am CAT. Er möchte einmal interaktive Videospiele entwickeln. Veröffentlichen will er sie auf dem Internet. «Dann kann jemand in Tokio mit jemandem in New York und jemandem in Zürich spielen», sagt Dennis. Angst, einmal keinen Job zu finden, kennt der nächsten Frühling mit dem Studium beginnende Dennis nicht.

«Wir sind gefragter denn je», sagt Programmierer Goldberg. Mindestens zweimal die Woche erhält er ein Angebot von einer privaten, meist multinational operierenden Computer- oder Softwarefirma. «Manchmal rufen sie an, meistens schicken sie ein E-Mail.» Angenommen hat Goldberg keine der zahlreichen Offerten, «noch nicht». Er lacht.

Es ist für die Universitäten schwierig geworden, ihre begabten Forscher zu halten. Längst unterhält die Industrie eigene, dank hohen Gewinnen modern ausgerüstete und hervorragend entlöhnende Forschungseinrichtungen.

Begabte Forscher wie Goldberg oder Perlin könnten jederzeit bei einer Privatfirma einsteigen. Noch ziehen sie aber das universitäre Laisser-faire dem permanenten Leistungsdruck der Privatwirtschaft vor. «Bei Microsoft», sagt Goldberg, «hast du einen festgelegten Abgabetermin.» An der NYU – es gilt akademische Freiheit – kann Goldberg forschen, was ihm gefällt.

Um den horrenden Lohnangeboten der Privatfirmen entgegenzutreten, suchte und fand man an der New York University trotzdem eine gangbare Lösung. Während früher jeder Dollar, der mit Lizenzverträgen verdient wurde, in die Unikassen floss, bekommen nun die Wissenschaftler jeweils die Hälfte der Erträge; am M.I.T. sind es gar 65 Prozent.

Für die Wissenschaftler ist dies lukrativ, «sehr sogar», wie Athomas Goldberg sagt. Die Nachfrage der Privatindustrie an neuen Produkten ist in den letzten zwei Jahren vor allem dank dem Wachstum des Internets enorm angestiegen.

Enorm gewachsen ist auch die Nachfrage nach Menschen, die diese Produkte bedienen können. Am CAT kümmert sich Kristin Meyer darum.

Sie wirkt schüchtern. Ihre dicke Brille nimmt sie ab, wenn der Fotograf sie ablichten will. Beginnt Meyer von ihrer Tätigkeit zu erzählen, blüht sie auf. Meyer, deren Vorfahren aus Deutschland in die USA kamen, führt eine Multimedia-Job-Datenbank. Sie vermittelt digitale Arbeit. Bereits mehrere hundert Stellen hat sie mit Absolventinnen und Absolventen von CAT-Lehrgängen besetzt. Tendenz steigend.

Während sie vor zwei Jahren die Firmen noch um Stellen angehen musste, sind es heute die privaten Unternehmen, die bei Meyer vorstellig werden und fragen, ob sie nicht noch die Adresse eines Computerspezialisten habe. Vor allem seit den «kolossalen» Zuwachsraten im Internet, sagt sie, sei die Nachfrage nach Multimedia-Spezialisten «riesig». Sie spricht nur noch in Superlativen. «Alles konzentriert sich aufs World Wide Web.»