«Ich erwarte, dass die Zuschauer mitdenken»

Regisseur Mike Leigh lässt in «Secrets and Lies» wesentliche Fragen unbeantwortet und baut so einen Dialog mit dem Publikum auf.

Interview: Peter Hossli

Mike Leigh: Es zeugt von Mut, ein Nachrichtenmagazin «Facts» zu nennen.

Warum? Ist doch ein origineller Name für ein Medienprodukt.
Leigh: Hier in England druckt die Presse nur Lügen, keine Fakten.

Ist dies einer der Gründe, warum Sie Ihrem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film den Titel «Secrets and Lies», «Geheimnisse und Lügen», gaben?
Leigh: Nein. So banal ist es nicht.

Während der Fussball-Europameisterschaften war ein neues englisches «Wir-Gefühl» zu beobachten. Glauben Sie, dass die anhaltende Krise Englands zu Ende geht?
Leigh: Das Ende irgendeiner Krise mit Fussball in Verbindung zu bringen ist doch völlig lächerlich.

Aber geht es England nach Jahren wirtschaftlicher Misere nun besser? Erholt sich das Land von den neoliberalen Thatcher- und Major-Jahren?
Leigh: Erkennen Sie eine solche Entwicklung?

Zumindest sind Sie in «Secrets and Lies», der am Sonntagabend am Filmfestival Locarno gezeigt wird, weit optimistischer als in Ihrem letzten Film «Naked» von 1993.
Leigh: Dass meine Filme irgendwas mit der aktuellen Lage in England oder mit der historischen Entwicklung in diesem Land zu tun haben, ist eine Vereinfachung, eine dumme, ja gefährliche Interpretation meines Werkes.

«Naked» war doch ein zynischer Film über den Thatcherism.
Leigh: Wie kommen Sie darauf? Sie reduzieren die Dinge hier völlig.

Der Thatcherism war eine extrem zynische Epoche, die Hauptfigur in «Naked» ist ein extrem zynischer Mensch, der sich um nichts kümmert.
Leigh: Er ist überhaupt nicht zynisch. Auch hier liegen Sie daneben. Er ist enttäuscht, frustriert, erkennt, dass die Werte um ihn herum zusammenfallen. «Naked» handelt nicht von England oder Margaret Thatcher. Er handelt von der westlichen Zivilisation. «Naked» könnte in jeder Stadt der Welt angesiedelt sein. Der Film ist nicht zynisch, er ist pessimistisch. Er ist ein pessimistischer Kommentar über das, was wir tun, wohin wir gehen, über die Isolation der menschlichen Existenz. All diese Dinge zählen. Wenn Sie «Naked» als Film über den Thatcherism sehen, entlarven Sie Ihre Sichtweise als sehr limitiert. Solches hat doch keine weitere Relevanz.

Und «Secrets and Lies»?
Leigh: Diesen Film als einen Kommentar über den Post-Thatcherism zu sehen ist ebenfalls limitiert, ja naiv. Es geht nicht um England. Es geht um Existenz, um Wurzeln, um die Frage, wer wir sind. Es ist ein universeller und gleichsam persönlicher Film.

Ihr Film handelt von der Suche nach Identität. Im Mittelpunkt steht Hortense, eine schwarze Waise, die im Erwachsenenalter nach ihren richtigen Eltern sucht. Wie beurteilen sie die Situation schwarzer Menschen in England?
Leigh: Der englische Rassismus und die Situation der Schwarzen hierzulande unterscheiden sich stark von den USA. Beides hat Wurzeln im Kolonialismus. Weil schwarze Menschen erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach England kamen, begannen die Probleme zwischen den Rassen hier erst später. Ich wuchs in Manchester auf. Bis zu meinem Studium traf ich keine einzige schwarze Person.

Warum entschieden Sie sich nun, eine schwarze Frau auf die Suche nach ihren Eltern zu schicken?
Leigh: Ob Frau oder Mann, spielte für mich nur eine kleine Rolle. Wichtig war dabei das Verhältnis Mutter-Tochter, das komplexer ist als etwa das Verhältnis zwischen Vater und Sohn.

Und bezüglich der Rasse?
Leigh: Warum eine schwarze Person? Ich wollte einen Film über Adoption machen. Es gibt Leute, die mir sehr nahe sind, die Erfahrungen mit Adoption haben. Mehr möchte ich darüber nicht sagen. Völlig getrennt davon wollte ich einen Film darüber machen, wie die Leute in unserer Gesellschaft auf schwarze Menschen reagieren, die sich nicht einfach unterordnen, sondern für ihre Rechte einstehen. Zusätzlich beschäftigte mich die Antwort der schwarzen Menschen auf die Reaktionen der Weissen.

Diesbezüglich überraschend vor allem, das Cynthia, die weisse Mutter von Hortense, sich vorerst nicht daran erinnert, einmal mit einem schwarzen Mann geschlafen zu haben. Warum?
Leigh: Wenn ich dies hätte erklären wollen, käme es in meinem Film vor. Ich weiss es, Cynthia weiss es, dem Publikum aber überlasse ich das Nachdenken darüber. Es gibt ein paar offensichtliche Gründe: Cynthia war damals sehr jung, trank viel Alkohol, sie hatte sexuelle Beziehungen zu mehreren Männern.

Die Erklärung bleibt aber aus.
Leigh: Bewusst. Mein Medium ist das Kino. Ich muss mit dem Publikum in irgendeiner Art in Beziehung treten, gehe von mitdenkenden Zuschauern aus. Ich weiss, dass sich das Publikum fragen wird, wie die weisse Frau mit dem schwarzen Mann Sex hatte, warum sie es verdrängt oder vergessen hat.

Etwas ähnliches passiert zwischen Cynthia und ihrem Bruder. Haben die beiden nun eine inzestuöse Beziehung miteinander oder nicht?
Leigh: Auch diese Antwort muss das Publikum selber finden.

Sie haben einen jüdischen Hintergrund. Ihre Grosseltern sind aus Osteuropa nach England eingewandert. Wie beeinflusst dies ihre Arbeit?
Leigh: Schwierige Frage. Sagen wir es so: Wenn jemand behauptet, dass die Balance zwischen Komödie und Tragödie, ein typisch jüdisches Stilmittel, ein zentrales Element meiner Filme sei, würde ich ihm nicht widersprechen.

Würden Sie sich als jüdischen Filmemacher bezeichnen? Wie etwa Woody Allen?
Leigh: Nein… Das ist eine schwierige Frage. Woody Allen hat einen Vorteil, den ich nicht habe: New York. Ich hatte nur Manchester. Als ich jung war, bin ich von der jüdischen Kultur weggerannt. Mein Hintergrund ist nicht nur jüdisch, er ist zionistisch. Davon bin ich weggelaufen, aus einsichtigen Gründen. Sind Sie jüdisch?

Nein.
Leigh: Gut. Sobald ich in New York bin, fühle ich mich völlig wohl dabei, jüdisch zu sein. Wohler als irgendwo anders auf der Welt. Woody Allen lebt in einer Stadt, in der es nichts Besonderes ist, jüdisch zu sein. Jüdinnen und Juden werden dort respektiert.

«Secrets and Lies» handelt vorwiegend von einer schwarzen Person. Glauben Sie, einmal einen Film über die Identitätssuche eines jüdischen Menschen zu drehen?
Leigh: Unbedingt. Aber das ist eine andere Frage. Zuerst muss ich die Frage beantworten, ob ich ein jüdischer Filmemacher bin. Wenn Sie fragen: «Ist das, was ich bin, ein jüdischer Filmemacher?» Dann lautet die Antwort: nein. Während Jahren habe ich Filme gedreht, bevor jemand die Tatsache diskutiert hat, dass ich jüdisch bin. Ich würde es hassen, ausschliesslich als jüdischer Filmemacher gesehen zu werden. Viel eher sehe ich mich als europäischen Filmemacher. Dennoch möchte ich die jüdischen Aspekte meiner Filme nicht wegreden.

Wie meinen Sie das?
Leigh: In meinen Filmen gibt es Elemente, die der englischen Gesellschaft gegenüber sehr kritisch, wenn nicht gar ablehnend gesinnt sind. Dies mag von meiner Situation als jüdischer Knabe, als Aussenseiter in meiner Jugend in Manchester kommen.

In Cannes haben Sie gesagt, die Goldene Palme für «Secrets and Lies» sei ein Sieg für das europäische Kino über die Dominanz von Hollywood. In Europa ist es derzeit vor allem das britische Kino, das Erfolg hat. Wie erklären Sie sich diese Renaissance?
Leigh: Es ist wunderbar, dass das britische Kino zurückkommt. Noch ist es aber nicht da, wo es sein sollte. Warum kommt es zurück? Das alte britische Kino wurde vollständig von Hollywood übernommen. Das seriöse Kino – Loach, Frears, Allan Bennet, ich – ist paradoxerweise beim Fernsehen geboren. Seit Anfang der siebziger Jahre haben wir teilweise brillante Filme über das Leben in England gedreht. BBC war damals sehr liberal. Wir konnten drehen, was wir wollten. Trotzdem gab es einen Nachteil: Da alles nur auf 16-Millimeter-Material gedreht wurde, liefen unsere Filme nie auf internationalen Festivals. Sie wurden nur am Fernsehen gezeigt. Alle haben deshalb gedacht, das britische Kino sei tot.

In Cannes war das Ende der Euro-Pudding- Filme zu beobachten. Obwohl «Secrets and Lies» oder der ebenfalls ausgezeichnete «Breaking the Waves» des Dänen Lars van Trier europäische Koproduktionen sind, gelten beide Filme als persönlich. Ist das schon eine Trendwende weg von den heimatlosen Grossproduktionen?
Leigh: Hoffentlich. Es spielt für mich allerdings keine Rolle, woher das Geld kommt. Wichtig ist die Freiheit des Regisseurs, mit dem Geld machen zu können, was er will.

Spurensuche einer jungen Frau

Entwickelt der Brite Mike Leigh, 53, einen neuen Film, arbeitet er mit seinen Schauspielern oft Monate ohne Kamera. «Zuerst müssen alle wissen und verstehen, wer sie sind», sagt Leigh. Erst dann kann er mit den Dreharbeiten beginnen. Dank dieser Arbeitsweise ist in Mike Leighs 25jähriger Laufbahn als Regisseur und Drehbuchautor ein ausgesprochen authentisches Werk über das Leben in England entstanden. Zu seinen bekanntesten Filmen gehören «High Hopes» (1988), «Life is Sweet» (1991) und «Naked» (1993).

In «Secrets and Lies», seinem am Festival von Cannes mit der Goldenen Palme auszeichneten Film, folgt er nun der Spurensuche einer jungen Frau. Hortense, schwarz und im Kindesalter zur Adoption freigegeben, sucht ihre Eltern. Als sie Cynthia, ihre weisse Mutter, findet, erschrecken beide. Was folgt, ist ein faszinierendes Spiel um die alltäglichen Geheimnisse und um die Lügen, mit denen wir uns zu schützen versuchen. Alle Figuren sind präzise ausgearbeitet. Anhand der jeweiligen Innendekorationen verdeutlicht Leighs Regie die Klassenzugehörigkeit von Hortense, Cynthia sowie deren Familie.

«Secrets and Lies» läuft am Sonntagabend am Filmfestival von Locarno auf der Piazza Grande.