Der Schuss ins kreative Herz

Valerie Solanas' Versuch, Andy Warhol umzubringen, kommt in schlichten Bildern auf die Leinwand.

Von Peter Hossli

Times Square, New York City. 3. Juni 1968. Abends, halb acht. Ohne nennenswerte Gefühlsregung händigt Valerie Solanas, 32, dem diensthabenden Strassenpolizisten Bill Schmalix eine automatische 32-Millimeter-Pistole und einen 22-Millimeter-Revolver aus. Mit den Worten «I shot Andy Warhol» – «ich habe Andy Warhol erschossen» – ergibt sie sich. Minuten später legt Schmalix, 22, Solanas in Handschellen und setzt sie in den herbeigefahrenen Streifenwagen.

Drei Stunden und zehn Minuten zuvor sinkt Warhol, Künstler, Filmemacher und führende Persönlichkeit der New Yorker Avantgarde, in seinem Atelier an der 14. Strasse, der Factory, zu Boden.

Valerie Solanas streckte ihn mit zwei gezielten Schüssen, abgefeuert aus der .32er-Pistole, nieder. «Er hatte zuviel Kontrolle über mein Leben», gibt Solanas später zu Protokoll. Warhol überlebt knapp, erholt sich aber nie vom Schock. Kreative Lähmung. Solanas verschwindet in der Psychiatrie und der Obskurität.

Hervorgeholt und auf Zelluloid verewigt hat sie nun die kanadische Filmerin Mary Harron. Mit einer der authentischsten Annäherungen an die Subkultur der späten sechziger Jahre demaskiert sie in ihrem Dokudrama «I Shot Andy Warhol» den Mythos Warhol. Vor allem aber rückt Harron jene genialische Schreiberin, Feministin und Kettenraucherin ins Zentrum, die in einer Streitschrift zur Auslöschung aller Männer aufgerufen hat.

Valerie Solanas, Gründerin und einziges Mitglied von SCUM, der «Society for Cutting Up Men» («Vereinigung zur Kastration der Männer»), glaubte an die Revolution, zumindest an die der Frauen. Schon im Teenageralter bereitet sie den Umsturz vor. Als Studentin beginnt Solanas in den fünfziger Jahre ihre Theorie vom «biologisch minderwertigen» Mann zu entwickeln. Auf einer Schreibmaschine entsteht ihr «SCUM-Manifesto», das sie in New York für einen Dollar pro Kopie verkauft.

Der Mann, schreibt Solanas im Manifesto, sei «ein Unfall der Biologie». Da das männliche Y-Chromosom nur ein unfertiges X-Chromosom sei, entspreche der Mann einer «unfertigen Frau». Die Frau, entkräftet sie auch Sigmund Freud, leide keineswegs an Penisneid. Viel eher hätte der Mann grösste Probleme, keine Vagina zu besitzen.

Bis zum Tag, an dem Solanas auf Warhol schoss, bleibt das «SCUM-Manifesto» unveröffentlicht. Zu deftig erscheinen selbst unabhängigen Untergrund-Verlegern Solanas’ Rundumschläge gegen den Kapitalismus, die Männerherrschaft und die Sexualität. Sex, und daran würden die Männer pausenlos denken und die Welt damit zugrunde richten, bezeichnet sie als «Zufluchtsort der Hirnlosen».

Solanas selbst hat ein verworrenes und keineswegs erfülltes Sexualleben. Sie bezeichnet sich als «Butch dyke», als männliche Lesbe, und preist allenthalben die gleichgeschlechtliche Liebe. Längere Beziehungen zu Frauen gibt es in ihrem Leben aber keine. Öfter als mit Frauen schläft sie mit Männern – gegen Geld.

Ihren Unterhalt im teuren Manhattan – sie wohnt im Chelsea Hotel – verdient Schriftstellerin Solanas mit kleinen Diebstählen und mit Prostitution. Zuweilen lässt sie sich für 50 Dollar die Woche als Sexsklavin anheuern, «damit ich in Ruhe schreiben konnte und mich nicht um die Miete kümmern musste».

Mit jedem Tag, an dem sie ihren Körper verkauft, sinkt ihre Achtung vor den Kunden. Ihre Erfahrungen als Prostituierte provozieren dann auch Sätze wie: «Einen Mann ein Tier zu nennen ist Heuchelei; er ist ein Maschine, ein wandelnder Dildo. Es wird oft gesagt, Männer benutzten die Frauen. Für was? Bestimmt nicht zum lustvollen Vergnügen.»

Solanas allein als Männerhasserin zu bezeichnen wäre zu einfach. Ihre im «SCUM-Manifesto» 1967 publizierten, höchst ironisch verfassten Theorien sind in mancher Hinsicht radikal. So ruft sie zum Sturz der Regierung auf, will den kapitalistischen Geldfluss unterbinden und alle Männer beseitigen, ohne Ausnahme. Im Sinn hat sie den grössten Genozid der Menschheitsgeschichte.

Viele halten solche Ausfälle für einen Witz. Ihre Schmähschrift nimmt kaum jemand ernst. Solanas gilt als verwirrt. Geboren 1936 in der Spielerstadt Atlantic City, aufgewachsen in Suburbia, erlebt Valerie eine verstörte Kindheit. Der Vater beutet sie sexuell aus, ihre Lehrer sehen in der verschrobenen, aber hochintelligenten Schülerin einen Sonderling. Einige vergewaltigten sie. Später, zu Beginn der Sixties, zieht sie nach Lower Manhattan, dem Armen- und Künstlerviertel von New York City. Sie beginnt zu schreiben, macht sich bald einen Namen als Provokantin, die sagt, was sie denkt. Der Avantgarde ist sie zu direkt. Sie gilt als wandelnde Selbstdarstellerin. Es fällt ihr schwer, an einen Ort zu kommen, ohne aufzufallen, ohne sich zu inszenieren.

Als Solanas erstmals die Factory betritt, bezichtigt sie der als paranoid geltende Warhol der Spitzelei, will in ihr gar eine Polizistin erkennen. «Ja, ich bin ein Cop. Und das ist mein Ausweis», antwortet Solanas, zieht die Hose runter und zeigt dem Künstler ihre Vulva. Warhol ist fasziniert von der Frau mit der Bob-Dylan-Mütze und den viel zu weiten Hosen. Er erkennt in ihr jene Radikalität, die ihm seit seinen Erfolgen abhanden gekommen war. Wo Solanas noch an die Kraft des Volkes und vor allem der Frauen glaubt, sind die Factory-Leute längst Teil des Establishments. «Schweine wie Warhol», sagt sie, «sollten kontroverse, aufgeschlossene Impresarios sein. Statt dessen saugen sie Talente wie mich aus.»

Trotzdem wird Solanas Teil der berühmten Factory, der Grossfamilie Andy Warhols, des Tummelplatzes der Avantgarde New Yorks, der Experimentierwiese von Leuten wie John Cale oder Lou Reed, die unter Warhols Ägide die Band Velvet Underground gründen. In Warhols Filmen übernimmt Solanas kleine Rollen. Sie gilt als talentiert.

Dennoch bleibt sie am Rande. Den prätentiösen Elitekünstlern ist die naive Frau zu bieder, zu wenig hip, ihre politischen Ideen gelten als altmodisch. Man verkauft ja Kunst in Europa.

Der schreibenden Feministin reicht New York. Sie hat genug vom Strassenleben, träumt vom grossen Geld und vom amerikanischen Traum, will in Manhattan, was ihr zusteht. Warhol soll ihr Theaterstück «Up your Ass» produzieren, der Verleger Maurice Girodias ihr «SCUM-Manifesto» endlich publizieren.

Sie überreicht dem Mann mit der silbernen Perücke ihr einziges Exemplar von «Up your Ass». Warhol verliert das Stück Papier. Er, der König des Unanständigen, befindet Solanas’ Werk «selbst für uns als zu unanständig».

Ob Warhols Ignoranz der Auslöser für Solanas Tat ist, bleibt ungeklärt. Fest steht, dass sie kurz darauf beginnt, das Attentat auf Warhol minutiös zu planen.

Am 31. Mai 1968 leiht der Autor und Frühhippie Paul Krassner der notorisch zahlungsunfähigen Solanas 50 Dollar. Damit begleicht sie nicht ihre Mietschulden, sondern kauft eine automatische 32-Millimeter-Pistole mitsamt Patronen. Um im Falle einer Fehlfunktion der Waffe sicher zu gehen, besorgt sie sich am nächsten Tag noch einen Revolver.

Am 3. Juni, dem Tag des Attentats, trifft sie am Union Square, wenige Strassen von der Factory entfernt, in einem Café auf Krassner. Er weist sie zurück, will nicht reden. Er zieht es vor, ungestört mit seiner 4jährigen Tochter Holly zu essen. Es ist Mittag. Irritiert verlässt Solanas das Restaurant und geht in die Factory, um Warhol zu erschiessen. Sie findet ihn nicht. Zwei Stunden durchstreift sie das Viereck zwischen 10. und 20. Strasse. Dann betritt sie erneut die Factory. Sie trifft Warhol und den Londoner Kunsthändler Mario Amaya. Ohne zu fackeln, schiesst sie auf den Künstler und auf den Händler. Amaya wird leicht verletzt.

Emotionslos verlässt Valerie Solanas die Factory, geht zu Fuss die 32 Strassen hoch zum Times Square und übergibt dort dem Jungpolizisten Schmalix ihre beiden Waffen: «Die Polizei sucht mich. Ich habe Andy Warhol erschossen.»

Am Tag nach der Tat schreibt die «New York Post» von geringen Überlebenschancen Warhols. Während fünfeinhalb Stunden operieren die Ärzte des Columbus-Hospitals die Schusswunden des Künstlers unterhalb des Herzens. New Yorker Zeitungen publizieren bereits Würdigungen seines Werkes, beschreiben sein Leben. «Andy Warhol: Life and Times» titelt die «New York Post».

Obwohl etwas vorschnell, sollten sich die Totsager als Propheten erweisen. Warhol starb – vielleicht als Langzeitfolge der Solanas-Schüsse – zwar erst im Februar 1987, fast zwanzig Jahre später. Künstlerisch ist er nach dem Attentat aber am Ende. Der Papst der Popkultur, der Magier der provokativen Innovation ist bloss noch Kunstgeschichte.

Warhols post-Solanas entstandene Bilder und Porträtserien tragen konventionelle, versöhnliche Züge. Seinen Filmen fehlt das Subversive. Sein Kopf erscheint öfter in Klatsch- als seine Kunst in Feuilletonspalten. Die Factory wird zur Festung. Wo früher tout New York zusammenkam, wartet nun ein Türsteher, der die Leute Gesichtskontrollen unterzieht. Später löst sich die Factory ganz auf.

Warum Valerie Solanas auf Warhol schoss, bleibt ein Rätsel. Es gab damals genug andere Männer, die das von ihr so verhasste Patriarchat eindringlicher repräsentierten. Warum nicht John Wayne, Lyndon B. Johnson oder General de Gaulle? fragte sich 1968 «Manifesto»-Verleger Maurice Girodias. Schauspielerin Lili Taylor, die Solanas in «I Shot Andy Warhol» verkörpert, glaubt, dass die Attentäterin Warhol beeinflussen wollte, ihr dies aber nicht gelang. «Sie musste auf ihn schiessen», sagt Taylor, «nur so konnte sie wirklich Macht auf ihn ausüben.»

Wahrscheinlich ging es Solanas aber um Anerkennung. Mit ihrem Lebensstil war sie Aussenseiterin, Warhol etabliert. Von einem, der es geschafft hatte, erhoffte sie sich den sozialen Aufstieg.

Zu ihren «15 minutes of fame», wie Warhol das Berühmtheitspotential jedes einzelnen einschätzte, würde Solanas aber nur mit tödlichen Schüssen kommen. Beim Konditional blieb es nicht. Einen Tag lang war sie in den Schlagzeilen. Innerhalb der Factory verschaffte sie sich kurz Respekt. Umbringen wollten Warhol die meisten Leute der Factory. Solanas aber war die einzige, die es versuchte. Eine Heldin wurde sie deswegen nie, selbst unter Feministinnen nicht. Mit dem Verdikt, sie nicht zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen, sondern psychiatrischer Pflege zu übergeben, entzog ihr die Justiz jede Glaubwürdigkeit.

1989 starb Solanas, vergessen und mittellos, in einem Hotel für Sozialhilfeempfänger in San Francisco. Niemand bezahlte den Arzt, den sie zur Behandlung ihrer Lungenentzündung so dringend benötigte. Die Zeitungen vermeldeten ihren Tod mit einer kleinen Notiz.

Ins Grab nahm Valerie Solanas die Genugtuung, Warhol um zwei Jahre überlebt zu haben – obwohl der Frau, die alle Männer ermorden wollte, schon der erste Schuss misslungen war.

Künstlerzentrum Factory

Porträts und Dosen

Andy Warhol war ein mediales Multitalent. Zu Beginn der sechziger Jahre gründete der am 8. August 1927 als Andrew Warhola geborene Pionier der Popkultur in New York die Factory, ein Experimentierfeld avantgardistischer Künstler, Maler und Musiker. Dort entstanden Warhols berühmteste Werke. Mit Siebdrucken fertigte er Porträtserien von Ikonen der US-Populärkultur wie Elvis Presley, Liz Taylor oder Marilyn Monroe. Seine Motive fand er auch in der Werbung. So verwendete er Suppendosen von Campbell oder entfremdete den Schriftzug von Coca-Cola.

Zur selben Zeit entstand in der Factory unter seiner Ägide die Band Velvet Underground. Bis 1971 entstehen gegen 30 Kurz- und Langfilme. Am bekanntesten ist «Sleep» (1963), eine sechsstündige Studie über einen schlafenden Mann. In den achtziger Jahren und bis zu seinem Tod am 22. Februar 1987 befriedigt Warhol seinen voyeuristischen Appetit vornehmlich mit der Polaroid-Kamera.
Schlichte Bilder

Schema gebrochen
Normalerweise rezyklieren Filme über die sechziger Jahre die üblichen, von den Medien längst zu Klischees verkürzten Stereotypen. Stets die selben Bilder, die selbe Musik, stets die selben bedeutungsschwangeren Köpfe. Die kanadische Dokumentaristin und ehemalige Musikjournalistin Mary Harron bricht nun mit diesem Schema. In ihrem dokumentarischen Spielfilm «I Shot Andy Warhol» rückt sie Nebenfiguren ins Zentrum und demaskiert eindringlich den Mythos der wilden Sixties.
In schlichten, teilweise mit der Handkamera aufgenommenen Bildern folgt sie der Feministin Valerie Solanas, die am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schoss. Vornehmlich dank Lili Taylors grossartigem Spiel als Solanas bricht der Film die gängige Vorstellung von der Mörderin als männerhassende Lesbe. Gleichzeitig wagt es die Regisseurin, den König der Popkultur als das zu zeigen, wofür ihn viele hielten: einen arroganten, elitären Egozentriker.