Rumhängen, kiffen, knallen

Der grosse Report über die Schweizer Jugendlichen zwischen 13 und 19: Drogen und Alkohol sind für viele Teenager alltäglich. Ihre Sexualität ist von Aids überschattet.

Von Peter Hossli 

Georg* ist 17jährig, und er «knallt schon mal eine» ohne Kondom. Allerdings nur, «wenn ich gerade keines bei mir habe». Gelassen dreht der Zürcher Optikerlehrling in einer Bar im Zürcher Niederdorf einen Joint – «mit Marihuana, nicht mit Hasch», wie er präzisiert. Heute abend sei er auf der Suche nach einer Frau: «Einfach zum Vögeln, mehr will ich gar nicht.» Pariser hat er keine eingepackt. Die würden doch «enorm lusthemmend» sein. Georg ist ziemlich sicher, dass er an diesem Abend auch ungeschützt zum Ziel kommt. Georg gehört zu jenen 20 Prozent der Schweizer Teenager, die regelmässig Haschisch oder Marihuana rauchen. Seine Abneigung gegen Kondome teilt er mit 26 Prozent seiner sexuell aktiven Altersgenossen.

Die Zahlen stammen aus einer repräsentativen Umfrage, bei der 612 Teenager zwischen dreizehn und neunzehn Jahren zu den Themen «Sexualität », «Drogen», «Aids» und «Zukunft» befragt wurden. Das Interesse an Sexualität und Drogen ist derzeit bei Jugendlichen in den USA wie in Europa besonders hoch. Auslöser ist der Film «Kids», der in den Vereinigten Staaten heftige Kontroversen auslöste und demnächst bei uns in die Kinos kommt. «Kids»-Hauptfigur Telly verspricht den Mädchen alles, damit er sie bumsen kann. «Vertrau mir. Du wirst bestimmt keinen Schmerz spüren.» Bevor es den jungen Frauen weh tut, flüstert er ihnen noch ein monotones «Ich liebe dich» ins Ohr.

Von Liebe will Telly nichts wissen. Er bevorzugt den schnellen Kick, will immer der erste sein, denn «nur dann wird sie sich ein Leben lang an dich erinnern». Als seien es Jagdtrophäen, sammelt der Halbwüchsige mit der noch ungebrochenen Stimme und dem schiefen Milchzahn auf seinen Streifzügen durch New York City unbefleckte Frauen.

Im vergangenen Sommer riefen in den USA aufgeschreckte Politiker nach Zensur, der «San Francisco Chronicle» lobte die semidokumentarische Darstellung einer Gruppe abgestumpfter Kids als «grossartiges Kino in der Tradition des ‹cinema vérité›», die «New York Times» nannte «Kids» einen «wake-up call to the world». Andere bezichtigen Clark des Voyeurismus und des beschränkten Blickes auf nur ein schmales Segment der pubertierenden Jugend. Bemängelt wurde, dass der Film weder Lösungsvorschläge biete noch Schuldige benenne.

«Kids» schildert einen heissen Sommertag im Leben einer Gruppe Halbwüchsiger. Am Morgen erfährt die 16jährige Jenny, dass sie HIV-positiv ist. Sex hatte sie nur mit Telly. Am Abend, weiss sie, will Telly an einer Party ein weiteres Mädchen deflorieren. Jenny, zwar zur rechten Zeit am richtigen Ort, stoppt ihn nicht. Sie ist mit Drogen zugedröhnt. Scheinbar unbemerkt beobachtet Larry Clarks Kamera die Teenager beim Alkoholkonsum und beim Grasrauchen, während wilden Happenings, an denen sie sich mit Lachgas benebeln, oder bei brutalen Schlägereien im Park. Gefrotzelt wird über Schwule und Schwarze, endlos debattiert über Drogen, Aids und vor allem Sex. «Sie machen genau das, was Teenager überall tun, wenn ihre Eltern abwesend sind», sagt Clark. Und die Eltern sind in «Kids» immer abwesend.

Beunruhigt fragen sich amerikanische Soziologen: Entspricht die soziale Realität tatsächlich den schrecklichen Visionen Clarks? Haben unsere Kinder im Teenageralter ungeschützten Sex miteinander? Konsumieren sie pausenlos Drogen? Ist ihre Bereitschaft zu Gewalt so gross? US-Statistiken gaben Clark teilweise recht. 48 Prozent der urbanen Jugendlichen haben mit 16 Jahren ihre erste sexuelle Erfahrung längst hinter sich, 72 Prozent mit 18. Die Hälfte davon schlief ohne Schutz vor Aids miteinander. Ein Drittel der 13- bis 19jährigen konsumiert regelmässig Marihuana oder Haschisch. Drogenkonsum ist auch für viele Schweizer Teenager eine Selbstverständlichkeit geworden.

Die Umfrage zeigt, dass die Hälfte regelmässig Alkohol trinkt. 20 Prozent «kiffen», rauchen also Haschisch oder Marihuana – eine eklatante Zunahme gegenüber 1986. Bei einer repräsentativen Umfrage der Schweizerische Fachstelle für Alkoholund Drogenprobleme gaben vor zehn Jahren noch zehn Prozent der Teenager an, sie würden Cannabis konsumieren. Parallel dazu ist auch die Teenagerszene mit ihren eigenen Verhaltensmustern und Ritualen gewachsen. In der «Pfeffermühle» etwa, einer rustikalen Beiz im Zürcher Niederdorf, treffen sich Abend für Abend Jugendliche zwischen zwölf und neunzehn Jahren. Die meisten wissen, was «Kids» ist. Das sei ein Film, in dem einer «nur mit Jungfrauen knallt und dauernd Drogen konsumiert werden », sagt der 16jähriger Sekundarschüler Mike. Er lacht. «Geknallt» hat er noch nie.

Wie die Jugendlichen im Film ist Mike ein Hip-Hopper, hört also vorwiegend Rapmusik. Im Sommer lenkt er sein Rollbrett über den heissen Asphalt von Zürich, in den Winterferien das Snowboard durch die verschneiten Half-Pipes in der Weissen Arena, dem Skigebiet von Laax. Seine Kleidung entspricht seinem Lebensstil. Sie soll «cool» sein. Oder «tranquille», wie man in der Szene seit dem französischen Banlieufilm «La haine» auch sagt.

Mike ist hager, sein Gesicht etwas eingefallen. Er trägt weite Hosen und eine blau-rot-gestreifte Wollmütze, ist ein Homeboy, wie er sich selbst beschreibt. Gesehen habe er «Kids» zwar noch nicht. Er las darüber, «soll echt cool sein». Seit etwa zwei Jahren wächst die Faszination für die amerikanische Hip-Hop-Kultur unter Schweizer Teenagern. Genau wie in Harlem oder der Bronx zählt auch hierzulande, zumindest unter den Jungs, oft nur der Act, der extrovertierte Auftritt. Jeder muss ein kleiner Schauspieler sein. Die Sprache und die schlaksigen Bewegungen werden ständig kontrolliert, müssen amerikanischen oder besser noch afroamerikanischen Vorbildern nachgeahmt werden – und zwar ohne dabei peinlich zu wirken.

Die Teenager, die sich hier jeden Abend treffen, wollen nicht nur während Andy Warhols berühmten fünfzehn Minuten im Scheinwerferlicht strahlen und dann wie eine Sternschnuppe verglühen. Sie wollen immer und überall im Mittelpunkt stehen.
«Du musst ständig an deinem Image arbeiten», sagt der KV-Lehrling Siro, 16, die schwarze Baseballkappe mit dem weissen Schriftzug «Bronx» nach hinten gedreht. Bartwuchs hat er noch keinen. In der Szene bekannt geworden ist Siro mit seinen Rollbrettkünsten und den Haaren, die er sich zu blonden Rastalocken flechten liess.
Seit kurzem signalisiert er seine Geschlechtsreife. Das Gummiband seiner Boxershorts zieht er deutlich sichtbar nach oben – Siro ist allzeit bereit. Den Act mit der zur Schau gestellten Leibwäsche hat er der amerikanischen Skateboardszene abgeguckt. Hier wie dort offenbaren breite, ganz tief sitzende Jeans und fast an den Bauchnabel reichende Shorts die erwachende Männlichkeit. Die Hand kann dann schnell in den Hosenbund gleiten, wo das erwachsen gewordene Geschlecht ständig nach Streicheleinheiten verlangt.

In der «Pfeffermühle» dröhnt laute Rapmusik, amerikanischer und nicht erst seit «La haine»auch französischer Hip Hop. Manchmal legt der Barmann auch ein Punkstück auf. Nur der Technobeat, der fehlt gänzlich.

Die vor einem halben Jahr von den Medien noch als «ultimative Jugendkultur » gefeierte Technobewegung findet wenig Anhang. Die Musik, der Kleidungsstil, vor allem aber die synthetischen Drogen, «die dich doch völlig blöd machen», sowie das gesellschaftliche Desinteresse der Technoiden lehnen die meisten Teenager ab. Nicht einmal drei Prozent der befragten Teenager konsumieren gemäss Umfragen die Technodroge Ecstasy.

Der Technobewegung prophezeien viele einen müden Tod. «Wenn von der Pille alle doof geworden sind», sagte Mike, «gibt es niemanden mehr, der im Takt dem Schwachsinn entgegentanzt.» Tanzen will die urbane Jugend nicht mehr. Angesagt sind statt dessen Rumhängen, Diskutieren, Saufen, Kiffen – und auch Sex. 12- bis 18jährige treffen sich in Beizen, legalen wie illegalen, gehen am Wochenende auf öffentliche Feten oder veranstalten in den Wohnungen ihrer Eltern private Parties. Dort hören sie Musik, trinken billiges Bier von Denner, rauchen jede Menge Gras und schlafen gelegentlich miteinander. Zu mehr Aktivität reicht es nicht. Sogar beim Snowboarden liegen die meisten oft nur im Schnee, reden und rauchen Hasch.

Die Adjektive ihres Vokabulars scheinen sich auf vier Worte zu beschränken: «krass», «geschissen», «geil» und «cool». Für Allan Guggenbühl, Jugendpsychologe und Autor des Buches «Die unheimliche Faszination der Gewalt», zelebriert die Jugend von heute weit mehr, als sie tatsächlich umsetzt. Im Vergleich zu früher würden viele Jugendliche wenig Eigeninitiative entwickeln. Sie sei erstaunlich lasch geworden, die Schweizer Jugend. Guggenbühl führt diese Entwicklung teilweise auf das Wegfallen autoritärer Strukturen zurück. «In einem katholischen Mädchenkloster gibt es mehr Widerstand gegen die Obrigkeit als in der Zürcher Szene», sagt er. Übertroffen hätten die Jugendlichen ihre Eltern nur punkto Drogenkonsum.

Ob Drogen oder Sex: Die Unterschiede zwischen Land- und Stadtjugend sind gering. Teenager aus Basel oder Bern rauchen, trinken und kiffen genausoviel und nehmen genausowenig harte Drogen wie Teenager aus dem Berner und Bündner Oberland. Beim Sex überbieten die angeblich reiferen Städter die kernigen Ländler kaum. Die Jugend agiert damit als Vorbote jener immer urbaneren Gesellschaft, auf die sich die Schweiz ohnehin zubewegt.

«Heroin macht dich kaputt und kostet zuviel», sagt Sabine, 15, den glühenden Joint unter dem rechten Handrücken versteckend. Drogen gehören aber sehr wohl zu Sabines Alltag, zu den Festen, welche die blonde Sekundarschülerin aus Zumikon mit Freundinnen und Freunden feiert, zum Snowboarden im Winter oder zum Rollbrettfahren im Sommer. «Es kiffen doch alle», sagt sie. Sie kifft jeden Tag. «Und ich geniesse jeden Zug.»

Den ersten Joint rauchte Sabine, die immer ein «Piece», ein Stück Hasch, in der Tasche hat, mit 13 Jahren, wie die meisten «aus Gwunder». Kürzlich entdeckte sie die betäubende Wirkung ihres Feuerzeugs. Sie liess dessen Inhalt kristallisieren und rauchte die Gasbrocken anschliessend in einer Holzpfeife. Derlei Experimente unternimmt Sabine allerdings nur, wenn ihr Taschengeld nicht reicht, etwas Hasch zu kaufen. Angst, von den Behörden belangt zu werden, muss sie keine haben. Lachgas und Feuerzeug-Gas unterstehen nicht dem Betäubungsmittelgesetz. Der stetig wachsende Drogenkonsum, das zeigen die Statistiken, erstreckt sich weitgehend auf Cannabis, nicht aber auf harte Drogen. Weniger als ein Prozent, ergibt die Umfrage, spritzt, raucht oder snifft Heroin oder putscht sich mit Kokain auf. Auch die neusten Daten der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und Drogenprobleme vom Mai 1995 stützen diesen Befund. 18,4 Prozent der 11- bis 16jährigen Kinder haben demnach schon Cannabis konsumiert. Erfahrungen mit Heroin oder Kokain gaben weniger als ein Prozent aus dieser Gruppe zu Protokoll.

Sarah, 16, befindet sich im ersten KVLehrjahr. Sie kommt jeden Abend in die «Pfeffermühle». Heute ist sie mit drei Freundinnen hier. Ihr Gesicht ist noch kindlich. Sie könnte auch erst zwölf sein. Seit zwei Jahren kifft Sarah regelmässig. Das Gras bezahlt ihr der Vater mit dem Sackgeld – «und das Christkind». Mit dem Hunderter, den ihr der Götti unter den Christbaum legte, hat sie am Tag nach Weihnachten Marihuana gekauft, mit Tabak gemischt, gerollt und geraucht. Oftmals bekommt sie aber auch gratis etwas. Die vielen Jungs, die mit dem Stoff gelegentlich dealen, spendieren schon mal einen Joint oder, an Partys, auch mal eine Ecstasy-Pille.

Sie würde nie dealen, sagt Sarah. Es sei «irgendwie verwerflich», wenn man vom Drogenhandel profitiere. Mädchen seien seltener im Geschäft als Jungs. Die hätten weniger Skrupel, seien gefühlloser als Frauen. Sagt’s und zieht dabei ihre Daunenjacke an. Einer, der Sarah «ganz cool» findet, hat ihr eben angeboten, draussen einen Joint zu rauchen. Sie geht mit. Zwischen Weihnachten und Neujahr, während der Schulferien, kiffen Jugendliche besonders viel. Bevor das Christkind kommt, feiern sie das Erntedankfest. Viele haben zu Hause Marihuana- Pflanzen, oder sie unterhalten auf dem Land ganze Felder. Reif sind die Pflänzchen im Winter, kurz vor Jahresende. Dann ist Marihuana in der Stadt im Übermass vorhanden und spottbillig. Angst, in den Treibsand harter Drogen zu geraten, haben die wenigsten. Viele wollen «nie höher» gehen als Marihuana oder Hasch. Genau wie die «dumm machende» Technoszene verabscheuen die meisten auch den synthetischen Stoff. LSD oder Ecstasy gehören nicht zur Hip- Hop-Szene. Diese schwört auf das beruhigende Gefühl eines kräftigen Joints.

Kiffen bleibt für viele «unerreicht». Hat niemand Angst, von harten Drogen abhängig zu werden? Gelassen wird geantwortet: «Angst? Warum auch? Du musst eh einmal sterben, da hab ich lieber noch ein wenig Spass.»

Unter Spass verstehen die Teenager Kiffen und mit Freunden Rumhängen. Mehr wollen sie gar nicht vom Leben. Die Lehrkräfte der Teenager fühlen sich angesichts dieser Haltung zusehends überfordert. Lehrerinnen und Lehrer, die seit über zwanzig Jahren vor Klassen mit pubertierenden Kindern stehen, sind den hypercoolen Kids, deren Sprache und Lebensstil oft nicht mehr gewachsen. Die Lehrmethoden erachten sie als «unzureichend. » Der Pausenplatz ist zum Drogenumschlagplatz geworden. Am schlimmsten sei es jeweils am Montag, berichtet ein Oberstufenlehrer, der in einer Aargauer Vorortsgemeinde 12- bis 16jährige in Mathematik und Biologie unterrichtet. Nach einem durchgehangenen Wochenende mit viel Gras und lauter Musik können sich die Schülerinnen und Schüler kaum mehr konzentrieren. Gelegentlich läuft einer mitten im Unterricht aus dem Klassenzimmer. «Er hat dann einfach keine Lust mehr auf Schule», sagt der Lehrer. Er versucht, seine Schüler zumindest über Drogen, Sexualität und Aids aufzuklären. Keiner soll die Schule verlassen, ohne einmal ein Kondom über eine Banane gestülpt zu haben.

Oftmals bleibt es bei der Banane. Laut Umfrage benutzen 26 Prozent der sexuell aktiven Teenager keine Kondome, wenn sie miteinander schlafen. Die 1995 publizierte wissenschaftliche Studie der Universität Zürich «Gesundheit bei 20jährigen» kommt zum Schluss, dass 14 Prozent der 20jährigen sich weder treu verhalten noch Kondome benutzen.

In der Diskussion um «Kids» hat der Umgang mit Aids die grösste Kontroverse ausgelöst. Hauptdarsteller Telly bezeichnet sich als «virgin surgeon», Jungfrauendoktor, der ausschliesslich mit unberührten Frauen schläft. Diese abstruse Drehbuchidee kam Larry Clark im Sommer 1992. An den meisten High- Schools von New York wurden damals Kondome verteilt. Alle sprachen über Aids und Pariser. Einige hängten sich farbige Kondome um den Hals, andere füllten sie mit Wasser und bewarfen alte Leute damit. Nur im Bett, stellte Clark fest, da wollte sie keiner benutzen.

Viel wird auch in Laax, dem Eldorado der Snowboarder, über Aids gesprochen. Während der Ferien und an den Wochenenden versammeln sich abends bis dreihundert Unterländer in der «Rockfabrik», dem Laaxer Szenetreff. Kein Thema beschäftigt Jugendliche hier mehr, nichts verunsichert sie eher als die tödliche Immunschwäche.
Denn im Unterschied zur etwas älteren, lustverdrossenen Technogeneration wollen die Teenager ihre Sexualität tatsächlich leben. 40 Prozent der 13- bis 19jährigen haben sexuelle Erfahrung mit einem Partner. Ein Fünftel hatte Geschlechtsverkehr.

Sexualität entdecken Teenager Mitte der neunziger Jahre jedoch im Bewusstsein, daran sterben zu können. Was für die meisten schon schwierig genug ist – die Veränderungen und das Kennenlernen des eigenen Körpers, das Entstehen sexueller Wünsche und das Reagieren auf Ansprüche anderer sowie Verhütungssorgen –, ist durch Aids für viele zum wahren Alptraum geworden.

Die Zürcher Mittelschülerin Billy, 17, hat mit 15 Jahren erstmals mit einem Mann geschlafen und eine «extreme Angst» vor Aids. Sie kennt viele, die ohne Gummi miteinander schlafen. «Natürlich», sagt sie, würden vor allem die Jungs auf Sex ohne Pariser bestehen. Sie versprechen den Mädchen dann das «Blaue vom Himmel». Sie habe einige Freundinnen, die sich darauf einliessen und ihr Recht auf Selbstbestimmung aufgeben. Die Frauenbewegung sei an denen spurlos vorbeigegangen, meint Billy. Sie fragt ihre Partner, ob sie den Aidstest gemacht hätten. Wenn nicht, besteht sie auf einem Kondom.

Junge Männer bejahen den Gummischutz weit weniger beherzt. Sie behaupten, mit den verhassten Präservativen nicht richtig zurechtzukommen. Gummis, sagen viele, seien eben «extrem lusthemmend » und «schwierig in der Handhabe».

Stellvertretend drückt Telly in «Kids» unverblümt aus, was viele seiner amerikanischen und schweizerischen Altersgenossen über Kondome denken: «Ich hasse sie», sagt er, umringt von seiner Clique. «Sie funktionieren oft nicht. Manchmal platzen sie auch. Kondome rutschen weg. Man fühlt weniger, wenn man eines tragen muss.» Unter Gelächter beendet er seine Tirade gegen das Präservativ mit «Kondome machen deinen Schwanz kleiner».

Teenager erleben ihre Adoleszenz 1996 nicht viel anders als Jugendliche sie 1986 oder 1976 erlebten. Schon damals entdeckten heranwachsende Jugendliche Drogen, Sexualität und Gewalt ohne ihre Eltern. Schon damals kaschierten sie ihre Unsicherheit mit hohen Hormonausstössen und ausufernden Parties. Neu sind höchstens die Selbstverständlichkeit, mit der Teenager heute zu Drogen greifen, ihre Gleichgültigkeit und die zunehmende Verantwortungslosigkeit. In einer Zeit, in der individuelle Freiheiten schier unbegrenzt scheinen, sind Jugendliche weniger denn je fähig, mit Freiheit etwas anzufangen.

Neu ist vor allem Aids. Regisseur Clark, der selber schwer drogenabhängig war, sieht «Kids» als Neunzigminuten- Lektion über «Safer Sex». Derzeit besucht er amerikanische Colleges und Universitäten und spricht mit den Studentinnen und Studenten über seinen Film.

Bald soll «Kids» auch auf dem Spielfilmkanal HBO ausgestrahlt werden und auf Video erhältlich sein. Erst dann werde die ganze Zielgruppe erreicht sein. Clark, überzeugt von der Kraft seiner cineastischen Botschaft, fordert «es müssen alle Kids ‹Kids› sehen».
Die Zumiker Sekundarschülerin Sabine sah «Kids» in Deutschland, wo der Film bereits im November in die Kinos kam. Und sie hatte dabei ein spezielles Erfolgserlebnis – als ihr eine Szene ganz besonders bekannt vorkam.

Jugendliche, so die Filmpassage, hielten «Gasparties» ab, während denen sie Treibgas-Patronen in Kinderballone einliessen und dann das Gas mit kräftigen Lungenzügen inhalierten. Sabine selber hat die Technik bereits weiterentwickelt. Sie atmet das früher Zahnärzten als Betäubungsmittel dienende Distickstoffmonoxid lieber direkt aus dem Rahmbläser ihrer Mutter ein, oftmals eine ganze Zwölferpackung pro Abend. Der Kick, sagt sie, sei zwar kurz aber stark.