«Ein Berg aus Klischees»

«Magic Matterhorn» von Anka Schmid befasst sich mit dem Heimatbegriff. Der Film wird in Nyon uraufgeführt.

Von Peter Hossli

Vielleicht ist Heimat ein Berg aus Klischees», sagt die Erzählstimme in Anka Schmids dokumentarischem Filmessay «Magic Matterhorn», das nächste Woche am Filmfestival von Nyon seine Welturaufführung erlebt. «Vielleicht ist Heimat das Matterhorn. Vielleicht die Schweiz.»

Die Schweizer Regisseurin Anka Schmid («Hinter verschlossenen Türen», 1991) sucht in ihrem jüngsten Film anhand des majestätischsten Anblicks der Schweiz nach einem Ort, der alle beschäftigt: Heimat.

In ihrem lakonisch-feinfühligen Porträt über jenen Berg, der ehrfurchtgebietend über Zermatt thront und in der ganzen Welt als Markenzeichen für die Schweiz wirbt, schlägt Anka Schmid mit dokumentarischen und trickfilmtechnischen Mitteln einen weiten Bogen vom Wallis nach Los Angeles. Dort steht im Disneyland mit dem «Magic Matterhorn» ein Duplikat des gefürchigen Felsens inmitten einer von Autobahnen durchfurchten Grossstadt. Diesseits wie jenseits des Ozeans evoziert der Berg hehre Mythen und Gefühle von ungebrochener Idylle. Hie wie dort ist er lukrativer Touristenmagnet, in Los Angeles jedes Jahr für mehrere Millionen.

Für 100 000 Amerikaner und noch einmal soviel Japaner, die jährlich bloss eines stumpfen Spitzes wegen nach Zermatt pilgern, bedeutet das Matterhorn noch viel mehr. Vor Schmids Kamera bezeichnen sie es als Turm, Pyramide, Mann, Frau, Kathedrale, Zuckerhut, Mutter, Phallus, lodernde Flamme oder Bindeglied zwischen den Sterblichen und den Göttern.

Im Wallis selbst fand Anka Schmid Menschen, die gespalten sind, die zwischen der althergebrachten, aber aussterbenden Berglandwirtschaft und dem modernen Massentourismus stehen. Sie befinden sich zwischen zwei Kulturen, einer traditionellen, mit der Natur verbundenen, und einer modernen, die voll auf Industrie und Massentourismus baut.

Einer, der vor der Kamera auf Schmids Fragen Antworten gibt, verdient sein Geld mit Billettkontrollen bei den Bergbahnen. Vor und nach der Arbeit bestellt er den Stall. Ein anderer ist Schreiner, der im Sommer Hotels renoviert. Im Winter arbeitet er vornehmlich auf dem Hof.

Die Solothurnerin Anka Schmid, 34, die in Berlin lebt, bereits in den USA, der Schweiz, Deutschland und Argentinien Filme gedreht hat, bezeichnet sich selbst als «nomadisierende Filmerin». Gefunden hat sie die Heimat noch nicht. In «Magic Matterhorn» lässt sie denn auch offen, wo der kaum definierbare Begriff einzuordnen wäre. Viel eher geniesst sie neben der subtilen Annäherung an das Bergbauerntum den Reiz des Klischees, die Kuckucksuhr, die Kuhglocke, die Alpenrose. Mit Videoclip-Einblendungen des Berliner Ulk-Trios «Die Geschwister Pfister», die aus dem Berg ein Kitsch- und Schockerlebnis machen, befreit sie jede Platitüde umgehend von ihrer angekratzten Reputation. Mit ehrfürchtigem Spott huldigen die drei singenden Geschwister den Berg, die Tracht oder die Folklore durchaus liebevoll.

Sogar Walt Disney liebte den Berg oberhalb von Zermatt. Als er zu Beginn der fünfziger Jahre in Anaheim bei Los Angeles sein erstes Disneyland konzipierte, wollte er unbedingt eine Nachbildung des Matterhorns. Gefragt war Älplerromantik auf Meereshöhe.

Doch ohne Jodel kein wahres Alpenglüh’n. Dies realisierte auch der in den USA geborene, im Emmental erwachsen gewordene und später wieder nach Kalifornien ausgewanderte Volksmusiker Fred Burri. Während siebzehn Jahren hat er zuerst in einer Berner Oberländer, später in der knallig roten Appenzeller Männertracht vor dem «Magic Matterhorn» im Disneyland gejodelt. Gefreut haben sich neben den kleinen und grossen Vergnügungshungrigen vornehmlich Mr. Kodak und Mr. Fuji. «Jeder zweite hat mich fotografiert», erinnert sich der inzwischen pensionierte Burri stolz an die glanzvollen Tage bei Disney.

In Anka Schmids Film ist Burri das Bindeglied zwischen heimatlichem Zuhause und häuslicher Heimat. Obwohl er seit Jahren in Kalifornien lebt und dort seine Platten aufnimmt, nennt er das Emmental den «Ort, wo ich herkomme, wo Heimat ist». Auf den Plattenhüllen inszeniert er sich, den weissen Scheitel nach rechts gelegt, stolz vor dem schneebehangenen Matterhorn.

Er weiss, was ein amerikanischer Teenager vor Anka Schmids Kamera auf den Punkt bringt und die meisten Schweizer insgeheim schon lange über den nationalen Berg gedacht haben, aber selten anzusprechen wagen: «The Matterhorn is really cool!»�