Der Meister der Verschwörung

Festivaldirektor Marco Müller setzt sich mit seinen Tricks und Finten zwischen alle Kinosessel.

Von Peter Hossli

Marco Müller stahl allen die Show, selbst seinem grossen An- und dann sogleich wieder Abwesenden: Jean-Luc Godard. Der 42jährige Direktor des Filmfestivals von Locarno gab sich vor 6000 Zuschauern im Freilichtkino auf der Piazza Grande salopp, als er die Filme «Nuit et Brouillard», Alain Resnais’ erschütterndes KZ-Essay, und «L’espoir», André Malraux’ dokumentarische Annäherung an den Spanischen Bürgerkrieg, ankündigte. «Darin kommen viele Beerdigungen vor, doch das Kino», schlug Müller mit nonchalanter Lehrerhaftigkeit den Bogen vom Krieg zu den bewegten Bildern, «wird noch lange nicht zu Grabe getragen.»

Konsterniert stand Godard daneben. Müller hatte mit seiner Geschmacklosigkeit erreicht, was er beabsichtigte, und stand dort, wo er am liebsten steht: im Zentrum des Geschehens, im Blitzlicht der Fotografen.

Bereits zum viertenmal dirigierte der introvertierte Kinobesessene Müller – «ich schaue mir jedes Jahr durchschnittlich 5000 Filme an» – die wichtigste Veranstaltung der Schweizer Filmbranche. Deren Rückhalt aber hat er seit seinem Wechsel vom Rotterdamer Filmfestival an den Lago Maggiore längst verloren. Publikum, Verleiher, Filmer und Produzenten mussten mitansehen, wie Müller in seiner vierjährigen Tätigkeit ein reputiertes Festival zur überladenen Gross veranstaltung herunterwirtschaftete.

Am liebsten schmückt Müller sich und sein Festival mit Welturaufführungen meist obskurer Natur. Filme, so sein Credo, müssen nicht gut, nur neu sein. An cineastischen Leckerbissen, die bereits andernorts auf Festivalleinwände projiziert wurden, schaut er vorbei. Seinem Publikum unterschlägt er etwa das derzeit hervorragende unabhängige Schaffen aus den USA. Statt dessen programmiert Müller wirre amerikanische Machwerke wie Amos Poes «Dead Week end». Filme aus Afrika oder Asien hievt er nicht deren Qualität wegen ins Programm, sondern weil sie aus Afrika oder Asien kommen.

Ein Höhepunkt des ansonsten nicht sonderlich geglückten heurigen Piazza-Programms sollte Ken Loachs «Land and Freedom» werden. Der britische Sozial filmer schildert darin aus der Sicht eines Engländers den Spanischen Bürgerkrieg. Die Filmcooperative, Verleiherin von «Land and Freedom», freute sich über den medienwirksamen Auftritt auf der «grössten Freiluftleinwand Europas».

Doch Müller hielt sich nicht an die Abmachung mit der Verleihfirma und programmierte den Film nach der Godard-Ehrung und den beiden Filmen von Resnais und Malraux lange nach Mitternacht. «Müller bricht seine Vereinbarungen ständig», ärgert sich Felix Hächler von der Filmcooperative. Erst nach zähen Verhandlungen wurde der Filmstart doch noch vorverlegt. Müller süffisant vor gegen 6000 Piazza-Besuchern: «Wir haben den Krieg gegen die Verleiher verloren.»

Zwei Tage später nutzte Müller die «Tessiner Zeitung», ein Blatt von Fe stivalpatron und Verleger Raimondo Rezzo nico, um den wichtigsten unabhängigen Verleiher Filmcooperative als «Meister im Fintenlegen» und «Feind des unabhängigen Kinos» zu bezichtigen. Die gescholtene Verleihfirma schluckte die Anfuhr und will die Angelegenheit «intern mit Rezzonico schlichten».

Leichtsinnig verzichtet Müller auf die allzu seltenen Meilensteine zeitgenössischen Filmschaffens. Das Angebot der Filmcooperative, Theo Angelopoulos’ in Cannes prämierten «Le regard d’Ulysse» auf der Piazza zu zeigen, lehnte er dankend ab.

Unter Müllers Egomanie leiden auch die anderen Filmfestivals der Schweiz. Dem mit viel Elan am Genfersee wiederbelebten Dokumentarfilmfestival von Nyon machte Müller einige bedeutende Filme abspenstig. «Eine Zusammenarbeit mit Müller scheint heute unmöglich zu sein», sagt Nyon-Direktor Jean Perret.

Selbst von der unabhängig agierenden Sektion Semaine de la critique konnte der Sinologe Müller seine Finger nicht lassen. Dort plazierte er eine «Peking-Ente», wie der «Tages-Anzeiger» zum Film «Der Platz» des Chinesen Zhang Yuang treffend kalauerte. Der Film war nicht der Rede wert, dafür kam Müller zu seinem Auftritt: Im Gespräch mit dem Regisseur konnte er während einer halben Stunde seine Chinesischkenntnisse vorführen.

Unter Müller-Vorgänger David Streiff, inzwischen Direktor des Bundesamtes für Kultur, hielt das Programm, was es versprach. Cineast Streiff, so das Bonmot, war Direktor des grössten der kleinen und des kleinsten der grossen Festivals. Cinemaniac Müller dagegen tendiert zur Gigantomanie. Er möchte am liebsten mit Cannes, Venedig oder Berlin gleichziehen.

Sein Publikum vergrault Müller zu sehends und verärgert damit auch die ortsansässige Hotellerie: Deren Wunsch nach einer Aussprache lehne der Direttore del Festival 1994 noch ab, «aber diesmal», so ein zorniger Locarneser Hotelier, «wird er sich uns stellen müssen».

Für die US-Filmindustrie, und die bestimmt die kommerzielle Bedeutung eines europäischen Festivals, spielt Locarno eine kleine Rolle. Der Locarneser «Filmmarkt» ist nicht mehr als ein Stelldichein der Schweizer Landkinobesitzer und Ver leiher. Bei Cüpli und Häppchen schauen sie sich Filme an, die längst einen Ver leiher haben und bald ins Kino kommen.

Die welturaufgeführten Filme jedoch, die in Müllers Wettbewerb ausgezeichnet werden, finden den Weg in hiesige Lichtspieltheater nur selten. �